Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
können wir in dieser Hinsicht von den Steinen lernen – abgesehen einmal vom Staying put, das sie in nachgerade unnachahmlicher Manier beherrschen? Steine neigen nicht zu blindem Aktionismus und überhasteten Entscheidungen. Sie erfinden sich nicht täglich neu als Blume, Fisch oderSchmetterling; sie bleiben sich treu und sind somit vorbildlich selbstidentisch. Steine setzen aufKontinuität, sie folgen ihrer Eigengravitation und reagieren auf die Kräfte, die auf sie wirken, mit Beharrlichkeit und – wenn unumgänglich – geschmeidiger Anpassung.
In der langfristigen Betrachtung sind Steine ja längst nicht so statisch und „lapidar“ (von lapis = der Stein), wie sie uns erscheinen. Für Eintagsfliegen sind Menschen auch so etwas wie Steine. Wind und Witterung verändern Felsformationen. Die Strömung des Baches schleift Kiesel rund. Orpheus konnte bekanntlich mit seinemGesang Steineerweichen. Beton fließt, was Architekten und Bauingenieuren regelmäßig Kopfzerbrechen bereitet. Glas ist in Wahrheit ein sehr zähflüssiges Gel. Die Plattentektonik schiebt die Erdteile zusammen, bis irgendwann in 250 Millionen Jahren der Superkontinent Pangaea Ultima entsteht. In der Welt der Steine brauchen manche Dinge eben etwas länger; man kann ihnen jedenfalls nicht nachsagen, sie würden eine unangenehme Hektik verbreiten.
DON’T BELIEVE THE HYPE:
DIE KUNST DES RUHE-BEWAHRENS
All change, please!
Nirgends ist die Kultur eines besinnungslosen Aktionismus so endemisch wie in den Führungsetagen der Wirtschaft. „Change“ lautet das Mantra stetigen Wandels, „Innovation“ der Refrain zum vorherrschenden Imperativ permanenter Veränderung. Andrew Grove, Gründer und lange Jahre Chef des Computerchip-Herstellers Intel, hatte Mitte der 1990er die Parole ausgegeben: Only the paranoid survive . Viele CEOs weltweit sind ihm gefolgt. Seither wird überall auf den Konzern-Galeeren die Schlagzahl erhöht und der Wandel vorangetrieben: Stillstand bedeutet Rückschritt, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und den Letzten beißen die Hunde. Bezeichnend, dass auch die Samwer-Brüder, die in Berlin Start-up-Unternehmen wie am Fließband produzieren, indem sie erfolgreiche Geschäftsmodelle kopieren, Groves Ausspruch – so ist Anfang 2013 der Berliner Zeitung zu entnehmen – zu ihrem Motto erkoren haben: „Nur die Paranoiden überleben!“
Das aktuelle Schreckgespenst hört auf den Namen „disruptiver Wandel“, gemeint sind jene seltenen, aber umso heimtückischeren technologischen Sprünge, nach denen buchstäblich kein Stein auf dem anderen bleibt. Einige Dinge, die früher analog waren, werden digital. Was digital ist, wandert vom stationären Rechner aufs Mobiltelefon. Jenseits von Internet und Mobile Web sind diese Sprünge selten, werden aber dennoch beschworen. Ein repräsentativer Titel der Zeitschrift Harvard Business Manager aus dem Februar 2013 etwa warnt: „Retten Sie ihr Geschäftsmodell. Vorsicht Disruption!“ und verheißt „Die besten Strategien für stürmische Zeiten“.
Im Genrebild des Industriekapitäns finden sich Topmanager ohnehin gern wieder: Von Unwetter umtost stehen sie alert im Friesennerz und mit Nordwester auf der Brücke, das Steuerrad fest im Griff, und lenken den Tanker durch die aufgewühlten Wellen des Wandels. Im oberen Management, unter den sogenannten Top-Entscheidern, gilt ungebrochen das Ideal des charismatischen Machers, der visionär den Kurs vorgibt und damit die Beharrungskräfte durchbricht, die in jeder Organisation walten. Der Luhmann-Fan Rainald Goetz hat mit seinem lang erwarteten Roman Johann Holtrop , der erkennbar durch den Ex-Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff inspiriert ist, ein schonungsloses Portrait dieses von Machtgier und Machbarkeitswahn zerfressenen Managertyps gezeichnet. Seinen Titelhelden nennt er einen „komplett entscheidungsverrückten, sprunghaften und rücksichtslosen Entscheidungshysteriker“. Die einzig denkbare Steigerungsform dieses verbreiteten dezisionistischen Aktionismus als Qualifikation für Top-Führungspositionen wäre die positive Umdeutung von „Fanatismus“, wie sie die NS-Propaganda im Dritten Reich vorgenommen hat.
Die neurophysiologischen Grundlagen von Hyperaktivität und Entscheidungshysterie unter Managern hören auf den Namen Adrenalinzyklus. Unter exogenem oder hausgemachtem Stress – immer schön paranoid bleiben! – schüttet der Körper das Hormon Adrenalin aus, um körpereigene Reserven zur Abwehr
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