Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
Experten, desto schlechter seine Vorhersagen.“ Merke: Hüte Dich vor den Vorhersagen von Igel-Experten, bekannt aus Presse, Funk und Fernsehen!
Der eigentlich überraschende Befund in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass auch die Fuchs-Experten, die weniger Zuversicht in die eigene Prognosequalität verströmen und ergo besser gegen Overconfidence imprägniert scheinen, im größeren Kontext nur unwesentlich bessere Prognoseresultate liefern. Sie schlagen zwar den Zufall, das heißt, ihre Prognosen sind akkurater als die des Schimpansen, der Dartpfeile auf eine Wand mit Zukunftsszenarios wirft. Aber beide Lager, Füchse und Igel, verlieren, gegen die konservative Null-Hypothese, die bei Philip Tetlock „no-change rule“ heißt.
Im Klartext: Wenn man immer davon ausgeht und darauf setzt, dass sich nichts verändert, fährt man im Schnitt besser, als wenn man auf Prognosen x-beliebiger Experten vertraut. Ein Stein-Experte, der – egal wie und komme, was da wolle – prognostiziert: „Alles bleibt, wie es ist“, hätte eine höhere Trefferquote als Fuchs- und Igel-Experten zusammengenommen. (Natürlich hätte so jemand Probleme, in der allgemeinen Wahrnehmung als Experte anerkannt zu werden.) Bei allen, deren Geschäftsmodell darin besteht oder davon abhängt, Wetten auf die Zukunft einzugehen, müsste dieses Ergebnis einen heilsamen Gegenschock auslösen: gegen den allseits im hohen Ton des Alarmismus verkündeten „disruptiven Wandel“.
Sicher, wir wissen, dass das nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Es gibt immer wieder Neues unter der Sonne, und Dinge verändern sich. Würde es keine Menschen und Unternehmen geben, die das historische Situationspotenzial erkennen und Neues in die Welt bringen, befänden wir uns tatsächlich noch in der Steinzeit. Wir kennen auch die Menetekel von Firmen, die stur bei ihren Leisten geblieben sind, zu lange ihren Stiefel gefahren haben und deshalb vom Markt gefegt wurden. Eastman Kodak zum Beispiel, die 1888 die erste Fotokamera für Endverbraucher auf den Markt brachten, haben als Weltmarktführer über hundert Jahre gut gelebt von der Herstellung von Film- und Fotomaterialien – unddarüber den Trend zur digitalen Fotografie verschlafen. Heute ist Kodak pleite. Der Konkurrent Fuji dagegen hat intelligent diversifiziert und ist kürzlich erst ins Kosmetikgeschäft eingestiegen. „Astaxanthin“ heißt der aus der der Nanoforschung stammende Wirkstoff, mit dem Fujifilm den Markt für Hautpflegeprodukte aufrollen will.
Unbestreitbar gibt es Hinweise, dass Großunternehmen und Konzerne anfälliger gegenüber unerwarteten externen Schocks geworden sind. Generell nimmt die Halbwertzeit von Großorganisationen ab. Seit 1935 ist die Verweildauer im Standards-&-Poor’s-500-Index,der Liste der größten US-Unternehmen, von durchschnittlich 90 Jahren auf 15 Jahre gesunken. Bis zum Jahr 2020 wird die Hälfte der heute noch gelisteten Unternehmen aus ihm verschwunden sein. Die Gefahr, durch unvorhersehbare Ereignisse – Finanzkrisen, Markttrends oder Technologiesprünge – aus der Kurve getragen zu werden, wächst also.
Wir kennen die mittlerweile kanonische Liste berühmter Fehlurteile von Branchen-Insidern, die in kaum einem Powerpoint-Vortrag zum Thema Wandel fehlen darf. „Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?“, soll ein Chef der Warner-Bros.-Filmstudios 1927 angesichts der Erfindung des Tonfilms gesagt haben, „Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt“, unkte ein IBM-Chef Watson 1948, als Computer noch Lagerhallen ausfüllten. Mit dem Ende des Kalten Krieges sei „the end of history“ erreicht, alles, was jetzt noch komme, sei nur noch ein unbedeutender Nachklapp, prophezeite 1992 ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler namens Fukuyama. Und so weiter.
Unbestreitbar, diese Sorte von Fehlurteilen künden von einer vogelstraußenhaften Ignoranz. Und sie zeugen von einer profunden Unfähigkeit, sich die Zukunft anders vorzustellen als eine lineare Fortschreibung der Gegenwart, als eine Vergangenheit in Grün. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, sie sind nur die spektakulär anzuschauende Spitze eines Eisbergs falscher Prognosen. Im öffentlichen Diskurs dienensie bloß dazu, vom großen Rest systematischer Fehlurteile abzulenken, der weithin unbemerkt unter der Wasseroberfläche dümpelt. Nämlich jene Fehleinschätzungen, die die Dynamik des Fortschritts überschätzen und
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