Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
die Versprechen der Biotechnologie auf medizinische Durchbrüche sich in Luft aufgelöst hätten – eine wirksame Krebstherapie ist nach wie vor nicht in Sicht –, dass selbst die dynamische Entwicklung von Rechnerkapazitäten und der Internet-Boom sich nicht in den ökonomischen Wachstumszahlen der USA niederschlage. „Wir wollten fliegende Autos, und alles, was wir bekamen, sind 140 Zeichen“, resümiert Thiel an anderer Stelle und spielt damit auf die begrenzte Zeichenzahl bei Twitter und in erweitertem Sinne auf die begrenzte Reichweite von Web-Innovationen an.
In dieselbe Kerbe schlägt Michael Lind vom Thinktank New America Foundation: „De facto hatten die Gadgets des Informationszeitalters nicht entfernt die transformatorischen Effekte auf Leben und Wirtschaft wie elektrisches Licht, Kühlschränke, Gas- und Elektroherde und die Innentoilette. Ist die Kombination aus Telefon, Videobildschirm und Tastatur wirklich so revolutionär, wie es das originale Telefon, das originale Fernsehen und die originale Schreibmaschine waren?“ Sein Text, erschienen im März 2010 im Time Magazine, trägt den schönen Titel „The Boring Age“.
Mag sein, dass die Analysen Thiels und Linds übertrieben sind. (Der Frage, was eigentlich so schlimm daran wäre, in langweiligen Zeiten zu leben, widmen wir uns noch einmal im fünften Kapitel.) Für den Moment bleibt immerhin festzuhalten: Wahrscheinlich trügt der Eindruck, dass wir in besonders bewegten, schnelllebigen, dynamischen und aufregenden Zeiten leben. Vermutlich handelt es sich bei dieser subjektiven und kollektiven Wahrnehmung um eine Form der „Gegenwartseitelkeit“, wie es der Zukunftsforscher Matthias Horx nennt: die Überzeugung, einen exponierten Platz in der Geschichte einzunehmen, an dem die Dinge eskalieren und sich dramatisch zuspitzen.
Selbst die psychosomatischen Reaktionen, die die gefühlte Beschleunigung, der Stress und die Überforderung der modernen Existenz mit sich bringen, sind keineswegs neu. Die epidemische Modekrankheit „Burnout-Syndrom“ mit ihren Symptomen Erschöpfung, Abgeschlagenheit, Überreiztheit war vor exakt einem Jahrhundert ähnlich verbreitet wie heute. Damals nannte man es „Neurasthenie“, und jeder europäische Großstadtbewohner, der sich etwas auf seine Modernität einbildete und es sich leisten konnte, litt darunter.
Was folgt daraus: Seien Sie misstrauisch gegenüber dem Imperativ des Wandels, gegenüber Change um des Changes willen! Trends werden nichtso heiß gegessen, wie sie angerührt werden. Die Zukunft läuft Ihnen nicht weg. Sie müssen nicht opportunistisch auf jeden ausgerufenen Trend aufspringen. Glauben Sie nicht an den Hype! Gehen Sie einfach gelassen Ihren Geschäften nach! Vielleicht unterläuft ihnen dabei unversehens und in einem Feld, auf dem niemand damit gerechnet hätte, die Innovation, auf die die Welt schon lange gewartet hat.
PLAYING ROCK:
DIE KUNST DES STURSTELLENS
Schere, Stein, Papier
Kommen wir zum heißen Herzen der Stein-Strategie: der Strategie. Strategie beginnt im Kleinen. Jedes Kind kennt das Spiel Schnick, Schnack, Schnuck: Zwei Spieler formen gleichzeitig auf Kommando mit der Hand ein Symbol. Schere zerschneidet Papier, Papier umwickelt Stein, Stein macht Schere stumpf. Auf Englisch heißt es „rock, paper, scissors“, und es gibt Abwandlungen in fast allen Teilen der Erde. Nicht von ungefähr liegt sein Ursprung – wie die Anfänge strategischen Denkens – im antiken China der Han-Dynastie, von wo aus es nach Japan exportiert wurde als Spiel der „Drei, die reihum Angst voreinander haben“.
Auch wenn Schnick, Schnack, Schnuck oft analog zum Werfen einer Münze eingesetzt wird, um zu entscheiden, wer an der Tankstelle neues Bier holen muss oder einen unangenehmen Anruf tätigen, handelt es sich dabei nur scheinbar um ein Glücksspiel. Nur in der ersten Runde, wenn zwei unvoreingenommene Spieler aufeinandertreffen, die sich nicht kennen, mag der Spielausgang rein zufällig sein. Danach trennt sich die Spreu vom Weizen.
Auch wenn es nicht unmittelbar einleuchtet, weil wir in ihm ein Kinderspiel sehen: Man kann gut und sogar Weltklassesein in Schnick, Schnack, Schnuck. Und zwar, indem man die Züge der Gegenseite antizipiert, während man selbst unberechenbar bleibt. Bei der offiziellen World Rock Paper Scissors Championship, die von 2002 bis 2009 jährlich in Toronto abgehalten wurde, gewannen nicht irgendwelche dahergelaufenen Scherzkekse, sondern
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