Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
insTor ging. Ergebnis: Die Schützen schossen mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit in die rechte Ecke, in die linke Ecke oder in die Mitte. Torhüter aber bleiben in den seltensten Fällen in der Mitte stehen, sondern entscheiden sich vor dem Schuss zumeist für eine Ecke, in die sie dann hechten. Selbst wenn sie sich für die richtige Seite entschieden, hielten sie dennoch nur ein Viertel der Schüsse. Blieben sie hingegen in der Mitte stehen, und der Schuss ging ebenfalls in die Mitte, hielten sie 60 Prozent.
Statistisch gesehen wäre es demnach rational, Torwarte blieben häufiger einfach stehen – auch nicht immer, denn das wäre wiederum vorhersehbar. Der Drang zum Handeln in einer extremen Anspannungssituation hält sie davon ab. Hinzu kommt, dass sich diese scheinbare Arbeitsverweigerung nur schwerlich mit Selbstbild und Berufsethos eines hochbezahlten Profis vereinbaren lässt: Wirft sich ein Torhüter in die falsche Ecke,ist das Pech. Ein Tormann, der wie angewurzelt stehen bleibt, während der Ball in die Ecke geht, gibt dagegen eine extrem unglückliche Figur ab. Fans, Team und Trainer erwarten von einem Torhüter, der sein Geld wert ist, dass er sich bewegt, genau wie Aktionäre von einem hochbezahlten Vorstandsvorsitzenden erwarten, dass er Tod und Teufel in Bewegung setzt. „Und wenn – wie hier – die Norm gegen rationales Verhalten steht“, kommentiert Bar-Eli seine Ergebnisse lakonisch, „dann setzt sich dieNorm durch.“
Noch einmal zurück zu Schnick, Schnack, Schnuck: Was tun nun also echte Champions, wenn sie gegen ihresgleichen antreten und also nicht darauf rechnen können, gängige Anfängerfehler auszunutzen? Sie versuchen gar nicht erst, ihren Gegner zu durchschauen und flexibel auf dessen taktische Manöver zu reagieren. Im Gegenteil: Sie legen sich im Vorfeld auf eine möglichst zufällige – und damit unvorhersagbare – Abfolge von Spielzügen, sogenannte „gambits“, fest, die sie im Duell stumpf exekutieren.
Wie man sich selbst fesselt, beschreibt Len Fisher in seinem lehrreichen Buch über Spieltheorie im Alltag, das passenderweise den Titel Rock, Paper, Scissors trägt: „Ich sage Selbstfesselung mit Bedacht, weil ich mir nicht anmaße, meine Chancen dadurch verbessern zu können, die Strategie von jemand anderem zu durchschauen. Wenn jemand das zu können glaubt, viel Glück! Meine Hauptsorge ist, andere davon abzuhalten, mich in mehr als der Hälfte der Fälle zu schlagen,die Antwort ist, eine wahrhaft unvorhersagbare und randomisierte Strategie zu finden und daran festzuhalten.“ Fisher leitet seine Strategie ab aus den Ziffern einer irrationalen Zahl wie Pi oder der Eulerschen Zahl, deren Abfolge keinem wiederkehrenden Muster folgt. Weil Menschen keinen verlässlichen Zufallsgenerator eingebaut haben, müssen sie auf solche Krücken zurückgreifen, wenn sie wirklich unberechenbar sein wollen. Merke: Wer sich bewegt, kann verlieren. Wer sich nicht bewegt, hat schon fast gewonnen.
Konfliktstrategien
Wovon reden wir also, wenn wir von Strategie reden? Eine allgemeingültige Definition könnte lauten: Strategie ist das planmäßige Verfolgen eines Ziels unter Berücksichtigung der eigenen Ressourcen und, wichtiger noch, unter Einbeziehung des antizipierten Verhaltens der Gegner, Mitspieler oder Mitmenschen. François Julliens Hinweis auf die fernöstliche Strategie im Hinterkopf (die – wir erinnern uns – von der Situation ausgeht, in der wir uns befinden, um diese dann mit kleinen, vorsichtig gesetzten Handlungsschritten zu beeinflussen), wenden wir uns kurz der abendländischen, hier insbesondere angelsächsischen Denkschule des planvollen Kalküls zu.
Akademisch formalisiert worden ist sie durch die Spieltheorie, deren Bezeichnung etwas irreführend ist, weil sie eben nicht mitKinderspielen, sondern mit den ernsten Dingen des Lebens befasst ist. Die ökonomische Spieltheorie erklärt sich überall dort für zuständig, wo zwei oder mehr vernunftbegabte Spieler interagieren, von denen jeder das Ziel hat, seinen persönlichen Nutzen zu maximieren. Einer ihrer Väter, Thomas C. Schelling, definiert den Wirkungsbereich in seinem Grundlagenwerk The Strategy of Conflict wie folgt: „Spieltheorie befasst sich mit Situationen – ‚Strategiespielen‘, im Kontrast zu Geschicklichkeits- oder Glücksspielen –, in welchen die beste Kombination von Zügen für jeden Spieler davon abhängt, was er von den anderen Spielern als Aktion erwartet.“
Len Fisher
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