Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
wünschen uns im Vorfeld, uns später nicht mehr umentscheiden zu können, weil wir überzeugt sind, klarer zu sehen, was auf lange Sicht das Beste für uns sein wird. Dahinter liegt eine philosophische Problematik: Was ist der Mensch? Und wieso können wir davon ausgehen, dass die Person, die morgens das Haus verlässt, noch die ist, die eine halbe Stunde später im Büro eintrifft? Auch wenn sie von ihnen Entscheidendes lernen können, sind Menschen nun mal keine Steine. Deshalb fällt es ihnen so schwer, dabei zu bleiben, wassie einmal für sich als richtig erkannt haben (oder erkannt zu haben glauben): Eigentlich sind wir ganz anders, wir kommen nur so selten dazu. Wenn man uns fragt, wie wir am liebsten unsere Abende verbringen, sagen wir: „Ein gutes Buch lesen“ – und schalten den Fernseher an, sobald wir nach Hause kommen.
Schon Georg Christoph Lichtenberg war durch intensive Introspektion auf dieses Problem aufmerksam geworden: „Ich habe es sehr deutlich bemerkt, dass ich oft eine andere Meinung habe, wenn ich liege, und eine andere, wenn ich stehe.“ Ökonomen nennen das Phänomen „Zeitinkonsistenz“. Plastisch vor Augen trat diese dem Nobelpreisträger George Akerlof, als er während einer Gastprofessur in Indien vor dem Problem stand, seinem Freund Joseph Stiglitz, ebenfalls Inhaber eines Wirtschaftsnobelpreises, eine Kiste Klamotten hinterherzuschicken, die jener bei einem Besuch vergessen hatte. Akerlofs Unlust, sich durch das Gestrüpp des indischen Post- und Zollwesens zu kämpfen, war so groß, dass er das Vorhaben jeden Tag aufs Neue auf den nächsten Tag verschob, um es dann aber wirklich zu erledigen. „Acht Monate lang wachte ich jeden Morgen auf und entschied, dass der nächste Morgen der Tag sein würde, an dem ich endlich die Stiglitz-Kiste verschicken würde“, erinnert sich Akerlof in seinem bahnbrechenden Paper „Procrastination and Obedience“ von 1991.
Die ökonomische Erklärung für das Problem, das hinter der Zeitinkonsistenz und der weitverbreiteten Neigung zur Prokrastination, zum notorischen Aufschieben, steckt, hört auf den Namen „Gegenwartspräferenz“. Die Zukunft ist ungewiss. Wir könnten morgen vom Lastwagen überfahren werden. Also leben wir lieber im Hier und Jetzt. Der Spatz in der Hand ist uns lieber als die Taube auf dem Dach. Deshalb schieben wir Unangenehmes möglichst lange auf, während wir Genuss jetzt sofort haben wollen. Diese Kehrseite lässt sich gut bei Kindern beobachten, bei denen die Gegenwartspräferenz besonders stark ausgeprägt ist. Stellt man ihnen einen Teller mit einem Marshmallow hin und verspricht ihnen einen zweiten, wenn man in fünfzehn Minuten wiederkommt, und der erste noch da liegt, wird in den meisten Fällen der Teller leer sein – weil die Kinder der Versuchung nicht widerstehen konnten. Ein klassisches Experiment der Sozialpsychologie errechnete eine durchschnittliche Wartezeit der Kinder von sechs bis zehn Minuten. Was es noch zutage förderte: Über eine Dekade später waren die Geduldigen unter den Kindern zu selbstbewussten, sozial kompetenten Persönlichkeiten gereift und konnten besser mit Rückschlägen umgehen. Diejenigen, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, hingegen waren unsicherer, unentschlossener, neidischer und schnitten – unabhängig von ihrer Intelligenz – in der Schule schlechter ab.
Akrasia nannten die alten Griechen den schon damals bekannten Sachverhalt, dass Menschen oft wider besseres Wissen und gegen ihre eigenen Interessen handeln. Um die Akrasia zu überwinden, der Problematik von Zeitinkonsistenz und Gegenwartspräferenz zu entkommen, müssen wir uns selbst überlisten. Wir brauchen Mittel und Methoden der Selbstfesselung, die unsere absehbare Unbeherrschtheit und Willensschwäche eliminieren und uns an die einmal als richtig erkannte langfristige Strategie binden. Wenn uns die Hände gebunden sind, kommen wir leichter an den zweiten Marshmallow.
Spieltheoretisch gesprochen heißt Selbstbindung oder Selbstfesselung „commitment“ und kommt in abgestuften Grundvarianten vor. Am Anfang steht: die Kosten für ein späteres Abweichen in die Höhe treiben, etwa indem man einVorhaben so lauthals öffentlichankündigt, dass mit dem Einknicken der eigene Ruf auf dem Spiel steht. Wahlversprechen von Politikern fallen in diese Kategorie. Die verschärfte Variante sieht die Installation von Automatismen vor, wie bei der Schuldenbremse, den EU-Defizitkriterien oder dem
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