Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
immer wieder aufs Neue ihre Ohnmacht.“
Fast wortgleich übernahm der SPD-Herausforderer Peer Steinbrück diese Sätze in sein Wahlkampf-Repertoire und warf Merkel wenige Tage später in einer öffentlichen Rede vor: „Sie sind, Frau Bundeskanzlerin, eine Last-Minute-Kanzlerin. Sie haben eine Neigung zum Nicht-Handeln, Noch-nicht-Handeln, Später-Handeln.“ Dabei haben Steinbrück und seine SPD-Spin-Doktoren verkannt, dass eine solche Attacke Merkel gar nichts anhaben kann, weil Steinbrück damit genau eine ihrer subtilen Stärken zu stigmatisieren versucht. Während Steinbrück auf das etwas angestaubte Bild des Politikers als zupackendem Haudrauf mit feurigem Reformeifer referenziert – und sich selbst als solcher in Pose setzt –, bestätigt Merkel, was Frank Partnoy in Wait über die Prokrastinationsneigung von Spitzensportlern, medizinischen Koryphäen oder auch Investment-Genies herausgefunden hat: „Top-Profis versuchen, genau zu verstehen, wie viel Zeit sie für eine Entscheidung zur Verfügung haben, um dann innerhalb dieses Zeitrahmens so lange zu warten wie irgend möglich.“
Worauf Ulrich Beck mit seinem Machiavelli-Vergleich anspielt, ist das Prinzip des divide et impera , teile und herrsche, das Herzstück machiavellistischer Machtpolitik. Auch das ist essentiell Stein-Strategie: selbst die ruhende Mitte und der lächelnde Dritte sein, während die Gegner aufeinander einschlagen.
Das geht allerdings nur aus einer Position der Stärke heraus. Aber auch für die Schwachen, die Underdogs der Geschichte, hat die Stein-Strategie etwas im Angebot: Mangelnde Macht kann ersetzt werden durch Zähigkeit und Beharrlichkeit. Man muss nicht bis zu Gandhi und seinem „gewaltlosen Widerstand“ zurückgehen. Ein aktuelles Beispiel liefern die Zapatisten im mexikanischen Chiapas: Im Januar 1994 war die EZLN mit ihrem virtuellen Anführer Subcomandante Marcos und einer konzertierten Aktion in mehreren Orten der Provinz auf der Weltbühne erschienen, um für die Rechte der indigenen Bevölkerung in dem aufstrebenden Schwellenland Mexiko zu kämpfen.
Nach einer Welle weltweiter Aufmerksamkeit, flankiert durch einen fortschrittlichen Internetauftritt, war es zwischenzeitlich etwas still geworden um die EZLN. Aber nur medial. Anfang 2013 zitierte die Taz in einem Artikel über die Rückkehr der Aufständischen den lokalen Experten Gustavo Ogarrio: „OhneEile, aber auch ohne Pause ist der Zapatismus von innen gewachsen, hat neue Generationen mit anderen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Würde hervorgebracht.“ Der Artikel resümiert: „Fernab der tagespolitischen Agenda haben die Indigenen ihre Glaubwürdigkeit also stärken können. Sie haben bewiesen, dass sie es ernst meinen mit ‚Nie mehr ein Mexiko ohne uns!‘. Ihre stoische Kontinuität, ihr kohärentes Handeln, ihr unnachgiebiger Einsatz für die Würde und Rechte der Indigenen hat sie auch in Zeiten durchhalten lassen, in denen der linke Mainstream sich distanzierte.“ Wie die Band Bots zu einer Zeit sang, als der Mainstream auch hierzulande noch eher links war: „Das weiche Wasser bricht den Stein.“
Brinkmanship
Als permanenter Stein des Anstoßes macht man sich zwar nicht überall Freunde, aber man bekommt – auch aus einer unterprivilegierten Position heraus – am Ende eher, was man will. Schon immer war die Ultima Ratio derer, die nichts zu verlieren haben, das in die Waagschale zu werfen, was sie haben: ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit. Mit dem Hungerstreik nehmen sie sich selbst in Geiselhaft, um die Machthaber über den Umweg öffentlicher Anteilnahme zu erpressen. Bei der Sitzblockade nehmen sie zumindest physische Schmerzen in Kauf, die bei der Räumung entstehen. Streiks- und Warnstreiks sind die künstliche Verknappung derer, die normalerweise am kürzeren Hebel sitzen.
Die theatralischste und telegenste Variante davon ist das Anketten, die buchstäbliche Selbstfesselung: Sei es an den Bahngleisen im Wendland, um die Castor-Transporte nach Gorleben symbolträchtig aufzuhalten, bis jemand mit der Flex kommt, um die Fesseln zu entfernen. Sei es am Eingangstor der Frankfurter Zentrale des DFB, um zu erpressen, dass Bernd Schuster und nicht Stefan Effenberg für den Kader nominiert wird – so geschehen vor der Fußballweltmeisterschaft 1994: Die freiwillige Geisel war der Schriftsteller Gerd Henschel. Bundestrainer Berti Vogts ließ sich nicht beeindrucken und nahm Effenberg mit in die USA, was
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