Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
rechtzeitig an den Westen kommuniziert wurde, ging das Abschreckungsmanöver schief und die Welt unter.
Der alternative Name für Brinkmanship, „game of chicken“, geht auf den britischen Sozialphilosophen Bertrand Russell zurück. In der Hochphase des Kalten Krieges 1959 verglich er das atomare Wettrüstender Supermächte mit der Mutprobe, die damals unter amerikanischen Teenagern en vogue war und unter anderem im James-Dean-Film Rebel Without a Cause auf Leinwand verewigt wurde: „Es handelt sich um eine Politik, die an einen Sport erinnert, der, so wurde mir berichtet, von degenerierten Jugendlichen praktiziert wird. Dieser Sport nennt sich ‚Chicken!‘ Er wird ausgeübt auf einer geraden Landstraße mit einem Mittelstreifen, indem zwei Fahrer sehr schnell aufeinander zu rasen. Jedes Auto muss die weiße Linie zwischen den Reifen behalten. Je näher sie einander kommen, desto unausweichlicher wird die gegenseitige Vernichtung. Sobald einer als Erster ausschert, ruft ihm der andere Fahrer im Vorbeifahren ‚Chicken!‘ zu, und der Verlierer wird zum Gegenstand des allgemeinen Gespötts. Solange das Spiel von verantwortungslosen Jungs gespielt wird, wird dieses Spiel als dekadent und unmoralisch erachtet, obwohl nur das Leben der Teilnehmer riskiert wird. Aber wenn das Spiel von gestandenen Staatsmännern gespielt wird, die nicht nur ihre eigenen Leben riskieren, sondern die von vielen hundert Millionen Menschen, denken beide Seiten, die Staatsmänner ihrer Seite seien weise und couragiert, und nur die Gegenseite sei tadelnswert. Das istnatürlich absurd.“
Seither steht „game of chicken“ spieltheoretisch für „Anti-Koordinationsspiel“, das heißt: für Konstellationen, bei denen jede Seite eigentlich als die klügere nachgeben müsste, damit nicht beide gemeinsam in die Katastrophe schlittern, in der es aber taktisch klüger sein kann, sich dumm, stumpf und stur zu stellen, weil dann die andere Seite nachgeben muss. Kurz gesagt: Wer zuerst zuckt, verliert. Wir kennen es aus dem Alltag, etwa vom Einfädeln mit dem Auto. Wenn der Fahrer des konkurrierenden Fahrzeugs stur bei seinem Tempo bleibt, autistisch geradeaus blickt und vielleicht noch ein Mobiltelefon am Ohr hat, werden wir bremsen und ihn vorlassen. Oder wir lassen es darauf ankommen.
Das ist, zugegeben, die hässliche (um nicht zu sagen: asoziale) Seite der Spieltheorie, die mitnichten zur Verallgemeinerung im Sinne eines ethischen Imperativs taugt. Das Resultat wäre die sprichwörtliche Ellenbogengesellschaft, in der jeder auf Kosten anderer versucht, seinen Dickkopf durchzusetzen, und der Sturste immer gewinnt – „survival of the stubbornst“. Es wäre die Welt von Maggie Thatcher, die nach dem TINA-Prinzip („There is no alternative“) immer ihren Kopf durchzusetzen versuchte, und deren Lebenseinstellung mit dem Satz „The Lady is not for turning“ gut zusammengefasst ist.
Freundlichkeit, Kommunikation und Bereitschaft zur Kooperation sollten immer unsere ersten Mittel der Wahl sein. Wenn sie versagen und uns ein Anliegen wirklich, wirklich am Herzen liegt, kann man auf Brinkmanship zurückgreifen. In gut begründeten Ausnahmefällen ist es legitim, auf stur zu stellen, stumpf Stein zu spielen und so der indignierten Gegenseite unseren Willen aufzuzwingen. Die moralische Legitimation, zumindest aus subjektiver Sicht, kann in diesem Fallvolkstümlich lauten, dass auf einen groben Klotz auch ein grober Keil gehört.
SOUND OF SILENCE:
DIE KUNST DES LAUTEN SCHWEIGENS
Schweigen aushalten
Dass Reden Silber ist, Schweigen hingegen Gold, weiß der Volksmund. Ebenso, dass man manchmal besser schweigt, wenn man für einen Philosophen gehalten werden will. Aber machen wir uns bewusst, was für machtvolle Waffen das Schweigen, das Nicht-Kommunizieren, der Gesprächsabbruch tatsächlich sind?! Gezielt eingesetztes Schweigen kann dröhnen wie ein Donnerhall. Schweigen als Verweigerung der Gesprächsfortsetzung ist so etwas wie die Neutronenbombe der Kommunikation. Gebäude und Infrastruktur bleiben intakt, aber das Zwischenmenschliche wird ausgelöscht.
Spieltheoretisch betrachtet baut Schweigen in Konflikten häufig eine Rampe zur Brinkmanship. Die Selbstfesselung besteht hier darin, die Brücken der Kommunikation abzubrechen. Wenn, wie im März 2013 geschehen, die Machthaber in Nordkorea das „Rote Telefon“ stilllegen, über das bis dahin informelle Gespräche zwischen Pjöngjang und Seoul möglich waren, dann ist das ein
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