Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
rückblickend als große Fehlentscheidung gesehen wird.
Spieltheoretisch heißt diese Form der Erpressung durch eigene Opferbereitschaft „brinkmanship“, deutsch etwa: Spiel mit dem Abgrund. Es ist tatsächlich die konfrontativste und gefährlichste Möglichkeit der Koordination zweier Parteien mit diametral entgegengesetzten Interessen – aber auch eine der wirksamsten, wenn es darum geht, den eigenen Kopf durchzusetzen. Wenn Politiker die Vertrauensfrage stellen, wenn Pokerspieler „all-in“ gehen undihr gesamtes Vermögen setzen, wo immer Menschen mit dem Kopf durch die Wand wollen und dabei ihr eigenes Schicksal in die Wagschale werfen, spielen sie Brinkmanship.
Die Entsprechung in internationalen Beziehungen ist das Ultimatum, eine Forderung, die, wenn ihr nicht nachgekommen wird, einen Automatismus der Eskalation in Gang setzt. Man nimmt potenziellen eigenen Schaden in Kauf, um eine wirksame Drohung zu erzeugen – ein riskantes Spiel mit dem Feuer, insbesondere wenn beide Seiten über Atomwaffen verfügen und/oder man mit Psychopathen verhandelt. Weil Spannung und Nervenkitzel garantiert sind, liegt Brinkmanship hinter zahlreichen Plots von Polit- oder Psychothrillern.
Brinkmanship kann im Affekt entstehen oder aus kühlem Kalkül heraus. Zu verschleiern, um welche Form es sich handelt, ist selbst Teil des Spiels. Auch bloß gespielte heißblütige Rachegelüste können eine weitaus wirksamere Drohung konstruieren als eine nüchtern vorgetragene Forderung. Die besondere Gefahr des Brinkmanship-Spiels leitet sich daraus her, dass, einmal entfesselt, niemand mehr irgendetwas unter Kontrolle hat. „The brink“, der Rand zum Abgrund, schreibt Thomas C. Schelling, ist „nicht die scharfe Abrisskante eines Kliffs, auf der man einen festen Stand hat, hinunterblicken und entscheiden kann, ob man springen möchte oder nicht. Es ist eine abschüssige Flanke, auf der man mit einigem Risiko gerade noch stehen kann; je näher man der Schlucht kommt, desto steiler wird der Abhang und desto größer die Gefahr des Abrutschens.“ Weil der Untergrund unregelmäßig und geröllig ist, könne weder die Person an der Kante selbst noch ein Beobachter sagen, wie groß die Gefahr wirklich ist, wann der „point of no return“ überschritten ist, ab dem die Dinge unweigerlich ins Rutschen kommen.
Jeder würde eine solche Person für unvernünftig halten. Innerhalb der rationalen Spieltheorie markiert Brinkmanship selbst den Kipppunkt zur Unvernunft, es ist das rationale Spiel mit dem Irrationalen. In der Literatur findet sich deshalb auch die Bezeichnung „madman theory“ für eine Taktik, die mit der eigenen Unzurechnungsfähigkeit kokettiert. Die US-Regierung unter Richard Nixon setzte im Vietnamkrieg darauf, die Welt glauben zu machen, Nixon sei ein derart irrationaler Kommunistenfresser, dass er zum Äußersten imstande sei und die Hand bereits am nuklearen Drücker habe – mit mäßigem Erfolg. Eher schon kauft man Kim Jong-un, dem nordkoreanischen Diktator in dritter Generation, ab, dass sein Hass auf den Westen Pjöngjang irgendwann zu einer Kurzschlusshandlung verleiten könnte; die Inszenierung des Irrsinns ist einfach überzeugender.
Damit eine Strategie des „Sich-sehenden-Auges-ins-eigene-Fleisch-schneiden“ glaubhaft wird, braucht es ein taugliches Commitment, sprich: die beobachtbare Selbstfesselung an eine glaubwürdige Drohung. Mit der Glaubwürdigkeit steht und fällt die Strategie, wie Nixon in Vietnam erleben musste. Eine Mutter, die im Supermarkt zu ihrer Tochter sagt: „Wenn du jetzt nicht aufhörst zu quengeln, bringe ich dich um“, ist ebenso wenig glaubwürdig wie ein John F. Kennedy, der den Russen droht: „Wenn Chrustschow auch nur eine Rakete in Kuba stationiert, greifen wir Moskau mit der Atombombe an.“ Erst wenn es Kennedy gelingt zu kommunizieren: „Ich habe meine Generäle angewiesen, mit der Vorbereitung und Durchführung eines atomaren Erstschlages zu beginnen, sobald wir belastbare Informationen über die Stationierung von Atomraketen in Kuba haben. Das ist ein Prozess, den ich dann selbst nicht mehr kontrollieren kann“, wird eine glaubhafte Drohung daraus. Sie macht plausibel, warum die USA so irrational sein können, die Selbstauslöschung billigend in Kauf zu nehmen. So wurde die Kuba-Krise 1962 entschärft. Die sowjetische „Weltzerstörungsmaschine“ aus dem Film Dr. Seltsam war ein ähnliches Werkzeug der Selbstfesselung. Weil ihre Existenz nicht
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