Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
eine Gespräch schuldest Du mir.“
An Tag 14 dann die endgültige Kapitulation inklusive verbrannter Erde: „Ich habe es wirklich versucht, JD. Aber ich nehme all die netten Sachen zurück, die ich gesagt habe. Du bist kreuzlangweilig. Ich habe Dir immer nur vorgemacht, dass ich die Serien und Filme gut finde, die Du magst, und Deine bescheuerten Freunde. Du bist nicht der Richtige für mich, und es geht mir tausendmal besser ohne dich. Ich bringe gleich Deine Sachen bei Deiner Mutter vorbei. Ruf mich nie wieder an.“ Nachdem sie durch die Mutter über den Grund des langen Schweigens aufgeklärt wurde, kann auch die letzte Mail mit dem Betreff: „DIESE MAlL ZUERST ÖFFNEN!!! LÖSCHE ALLE VORIGEN MAlLS VON MIR!!!“ nichts mehr ausrichten. Die Beziehung von JD und Ern hat dieses Wechselbad der Gefühle nicht überlebt, aber immerhin der Welt ein eindrückliches Zeugnis davon beschert, in welche nagende Konfusion einseitiges Schweigen Menschen stürzen kann.
Durchlaufen werden in mäandernden Schleifen alle Stadien des bewussten Sterbens und der Trauerbewältigung nach Elisabeth Kübler-Ross, dieda sind: Verleugnen, Zorn und Ärger, Händel mit dem Schicksal, Depression und Akzeptanz. Nur, dass die betreffende Person am anderen Ende der Leitung, der Welt oder der Stadt nicht tot ist, sondern nur den Kontakt abgebrochen hat. Was bei Ern und JD ein bedauerliches Missverständnis war, findet da draußen tausendfach statt: Partner, Angehörige, langjährige Freunde brechen von einem Tag auf den anderen den Kontakt ab und beantworten fortan weder Anrufe noch Briefe. Die Journalistin Tina Soliman hat solche Fälle in Deutschland recherchiert und 2011 im Buch Funkstille zusammengefasst. Im Editorial der Website zum Buch schreibt sie: „Die Funkstille ist ein Appell, der besagt: ‚Bitte höre, was ich nicht sage!‘ Es geht alsodarum, gehört zu werden, indem man nichts von sich hören lässt.“
Ohne großes Marketing von Verlagsseite entwickelte sich das Buch zum Best- und Longseller und liegt inzwischen in der sechsten Auflage vor, was zeigt, dass dieses Phänomen weiter verbreitet sein muss als angenommen – und der Leidensdruck der Betroffenen enorm. Einige der Interviewten im Buch äußern Sätze wie: „Es wäre leichter, wenn er tot wäre.“ Dann könne man sich wenigstens damit arrangieren. Die Autorin resümiert: „Wer schweigt, schafft Distanz, hat Macht. Aber was hat man davon? Die Funkstille ist auch eine Krise der Selbsttäuschung. Beide, Abbrecher und Verlassener, sind letztendlich Opfer und Täter zugleich.“ Und sie plädiert dafür, den Kontakt behutsam wieder aufzunehmen.
Wir halten fest: Ein bisschen rar machen geht in Ordnung. Das Totstellen gegenüber Angehörigen, Ex-Geliebten, ehemals besten Freunden und Freundinnen ist eine extreme Form der Stein-Strategie. Aber eine, die zu keinem Ziel führt. Deshalb lassen wir die Finger davon.
Talking means trouble
In abgeschwächter Form kann die Stein-Strategie allerdings durchaus zwischenmenschliche und innerfamiliäre Konflikte entschärfen helfen: und zwar mittels verschiedener Varianten des Aussitzens, Auf-Sich-Beruhen-Lassens, aber auch Aufschiebens und Vertagens-auf-unbestimmte-Zeit. Wie eine Muschel ein lästiges Sandkorn, das sie nicht loswerden kann, mit Perlmutt umschließt, so lassen sich auch Konflikte schockfrosten und isolieren.
Der FAZ -Wissenschaftsredakteur Jürgen Kaube macht sich angelegentlich eines von ihm ausgegrabenen Aufsatzes des Soziologen Georg Simmel über „Das Ende des Streits“ in seiner Kolumne Gedanken darüber, wie häusliche Konflikte befriedet werden können: „Streit endet durch Sieg einer Seite, durch Kompromiss, durch das Wegfallen des Streitobjektes oder durch Versöhnung. Man könnte noch hinzufügen: durch Erschöpfung. Eine Möglichkeit ist dabei unerwähnt geblieben. In Familien oder Ehen, in denen viel gestritten wird, ist bekannt, dass Konflikte mitunter über Nacht verschwinden. Am Abend ginges noch heftig zu, Worte wurden gewechselt, Türen geschmissen, Tränen flossen, man schlief unversöhnt ein. Am nächsten Morgen herrscht zwar nicht sonniger Frieden. Aber der Konflikt wird eingeklammert, weggelegt und ausgekühlt.“ – Wie kochende Lava, die zu Stein erkaltet, eine Wespe, die von Bernstein eingeschlossen wird, ein Archaeopteryx, der zum Fossil versteinert. Kaube weiter: „Es ist also nicht zur Aussprache gekommen, keine Klärung der strittigen Fragen wurde erreicht, der Konflikt
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