Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
Faktoren wie Erschöpfung, Dehydrierung, Unterkühlung werden verstärkt durchdie innere Konfusion – und verstärken sie ihrerseits. Eine fatale Spirale.
William Syrotuck, ein Pionier der Survival-Forschung, hat 229 Fälle von Verschollenen untersucht, davon 11 Prozent mit tödlichem Ausgang. In Analysis of Lost Person Behaviour beschreibt er das typische Muster der Eskalation bei Verirrten. Mit dem Kollaps der inneren Karte setzt die Panik zunächst schleichend, dann heftig ein. Die Verirrten verlieren den Kopf: „Sowie die Umgebung weniger vertraut erscheint, die Dinge durcheinandergeraten, entwickeln sie ein Schwindelgefühl, bald gefolgt von Klaustrophobie. Weil die Bäume und Abhänge sie festzuhalten scheinen, versuchen sie ‚auszubrechen‘.“ Mit aller Hast wird versucht, an einen Ort zu gelangen, der wieder auf der mentalen Landkarte verzeichnet ist. „Das ist der Punkt, an dem siewild rudernd zu rennen beginnen und blanke Panik ausbricht. Rennen ist Panik!“
In den von Syrotuck untersuchten Fällen mit tödlichem Ausgang starben drei Viertel der Menschen innerhalb von 48 Stunden. Die häufigste Todesursache war Unterkühlung, was in diesem Zusammenhang nur ein anderes Wort für Selbstaufgabe sein kann. Die physische Verausgabung führt zügig und unweigerlich in die totale Erschöpfung; die mentale Hyperaktivierung mündet in Resignation. Insofern hat Douglas Adams absolut den Punkt getroffen, als er auf der Hülle des titelgebenden elektronischen Reiseführers seiner Romantrilogie Per Anhalter durch die Galaxis in großen Leuchtbuchstaben die Worte „DON’T PANIC“ stehen ließ. Tatsächlich ist die Frage, ob man in unübersichtlichen und scheinbar ausweglosen Situationen – egal ob als Anhalter im Weltall oder als auf der Erde Verirrter – in Panik gerät oder kühlen Kopf bewahrt, statistisch gesehen die, die über Leben und Tod entscheidet.
Deep survival
„Jeder, der da draußen stirbt, stirbt aus Verwirrung“, schreibt Laurence Gonzales in Deep Survival . Für sein Buch hat der kanadische Journalist anhand zahlreicher Fallstudien untersucht, welche Strategien Verirrter und Verschollener am ehesten Erfolg versprechen und welche direkt ins Verderben führen. Die Quintessenz seiner Analyse heißt: „ Be here now . Die letzte Phase im Prozess des Verirrtseins kann sich entweder als das Ende oder als ein neuer Anfang erweisen. Einige geben auf und sterben. Andere hören auf zu verleugnen und beginnen zu überleben. Du musst keine Spitzenleistungen erbringen. Du musst nicht perfekt sein. Du musst nur weitermachen und das nächste richtige Ding machen.“ In den meisten Fällen ist das nächste richtige Ding, vor Ort zu bleiben und sich mit der Situation zu arrangieren.
In fast allen Survival-Ratgebern lautet die Empfehlung deshalb: „Stay put!“, bleib, wo Du bist, und schone Deine Kräfte!
Natürlich ist das keine Option in der Todeszone des Himalaya. Dort nur zu rasten ist gleichbedeutend mit dem sicheren Erfrierungstod; und kein Rettungshubschrauber wird einen je wieder von dort wegholen. Aber in Situationen, wo man im Entferntesten davon ausgehen kann, dass nach einem gesucht wird, oder regelmäßig andere Menschen vorbeikommen, ist Stay put die mit Abstand überlegene Überlebensstrategie.
Das klingt selbstverständlich und naheliegend, wenn man es vom Schreibtisch, aus dem Ohrensessel oder dem Survival-Seminar, jedenfalls aus dem Schutz der Zivilisation heraus betrachtet. Verirrt in der Einsamkeit der Wildnis scheint es das Schwierigste und Abwegigste überhaupt zu sein, jedenfalls halten sich 99 Prozent der Verirrten nicht an diese Regel. Laut einer Erhebung, die der Verirrensexperte Kenneth Hill anstellte, blieben nur zwei von 800 im Laufe der Jahre in Neuschottland verirrten Personen absichtlich an einem Ort, um besser gefunden zu werden. Kathrin Passig und Aleks Scholz zitieren ihn in ihrem lehrreichen Buch über das Verirren mit: „Zwar bewegen sich die meisten verirrten Personen nicht mehr fort, wenn sie gefunden werden, das liegt jedoch vorwiegend daran, dass sie erschöpft sind, schlafen oder das Bewusstsein verloren haben.“
Dass sich Menschen da draußen so schwertun, diese einfache Regel zu befolgen, hatauch etwas mit Gesichtsverlust und Scham zu tun, vermuten Passig und Scholz: „‚Staying put‘ ist das Eingestehen des eigenen Versagens, der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit, und zwar nicht nur vor sich selbst, sondern auch gegenüber den hypothetischen
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