Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
irgendwann zur Ruhe kommen.
Die Veränderung des Geisteszustands, die mit der Sesshaftwerdung einhergeht, ist subtil, aber fundamental. Nach fünf Jahren beginnt man, den Lokalteil der Tageszeitung zu lesen und sich für Kommunalpolitik zu interessieren. Nach zehn Jahren an einem Ort kennt man die Menschen im Viertel, und man grüßt sich auf der Straße. Einigen mag diese Verdörflichung bestimmter Großstadtquartiere gegen den Strich gehen, aber sie birgt durchaus Vorteile. Für intakte Nachbarschaftlichkeit ist sie ebenso Voraussetzung wie für zivilgesellschaftliches Engagement und eine hinreichende politische Beteiligung auf lokaler Ebene – vom ökologischen Fußabdruck gar nicht zu sprechen.
Trendforscher werden nicht müde, uns das Mantra der Flexibilisierung und totalen Mobilmachung herunterzubeten. Zyklisch wiederkehrend werden die „Neuen Nomaden“ als Rollenmodell der Zukunft ausgerufen, in wechselndem Gewand, mal als hochmobile „digitale Amazonen“, mal als kosmopolitische „Creative Class“. Dabei bleibt das Bild ähnlich schwammig und unscharf wie das der Handelsreisenden im Wüstenplaneten , deren Körper sich als Reaktion auf das interstellare Vielfliegertum in teigige Quallen vewandeln.
Unter dem Titel „Einfach dableiben“ beschreibt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung den gegenteiligen Trend, wenn man bei etwas so Statischem überhaupt von Trend sprechen kann: „Tatsächlich neigt ein großer Teil der Bundesbürger zur Sesshaftigkeit, viele bleiben ihrem Geburtsort oder zumindest ihrer Heimatregion treu.“ Der mobile, stets auf gepackten Koffern sitzende Wanderarbeiter, so die Erkenntnis, ist eine Chimäre der Medien und ein herbeihalluzinierter Arbeitgeber-Wunschtraum. Dennoch setzt uns die Beschwörung dieses Typus unter Stress, weil wir glauben, uns an ihm messen zu müssen.
Sicher gab es Vertreibungen, Völkerwanderungen, die Auswanderungswelle in die USA. Heute gibt es Migrantenströme, Armutsflüchtlinge und Auswanderungsshows auf RTL II. Aber die wenigsten dieser Wanderbewegungen kommen aus freien Stücken in Gang. Meist sind Kriege, Klimawandel, Hunger oder die Aussicht auf ein besseres Leben der Auslöser. Fragt man die Menschen, wonach sie sich sehnen, dann steht „Irgendwo ankommen“ hoch im Kurs. Selbst die Klasse der Kosmopoliten mit ihren Senator-Cards kennt die melancholische Sehnsucht nach Erdung, die einen angesichts des rastlosen Unterwegs-Seins als Business-Vielflieger beschleicht. Die Pet Shop Boys besingen sie in ihrer Yuppie-Hymne Home and Dry .
Irgendwas scheint uns jedoch vom Ankommen abzuhalten. Die meisten Menschen sind, wie die Band Element of Crime singt, zumindest gefühlt „immer unter Strom, immer unterwegs und überall zu spät“. Als ob eine innere Ungeduld uns dazu zwingen würde.
Action bias
Warum fällt es uns in alltäglichen Situationen, in denen es nicht um Leben und Tod geht, oft so schwer, abzuwarten und stillzuhalten? Passivität führt uns unsere missliche Lage eindeutiger vor Augen oder macht sie uns erst vollends bewusst. Wir halten es schlicht nicht aus, dass nichts geschieht, wo ein Missstand offenkundig ist, die richtige Lösung aber im Dunklen liegt – oder womöglich gar keine „richtige Lösung“ existiert. Abwarten und Ausharren erfordert ungleichmehr Selbstdisziplin, als sich Hals über Kopf in Handlung zu stürzen, um nicht weiter nachdenken zu müssen.
Die menschliche Neigung, in unübersichtlichen Situationen aktionistisch zu handeln, auch wenn das Handeln unabsehbareund am Ende negative Folgen hat, wird im wissenschaftlichen Kontext „action bias“ genannt. Das Wort „bias“ – die Älteren kennen es noch vom Tape-Deck der Stereoanlage, wo es die Vormagnetisierung des Magnetbands bedeutete – meint die systematischen Fehleinschätzungen und typischen Abweichungen vom rationalen Handlungskalkül. Seit den späten 1970ern hat sich die Erforschung von „biases“ zu einem der spannendsten Felder innerhalb der Wirtschaftswissenschaften entwickelt. Die Pioniere der neuen Verhaltensökonomie, Daniel Kahnemann, Amos Tversky und Dan Ariely, haben mit einer Reihe raffinierter psychologischer Experimente das Menschenbild des rationalen Homo oeconomicus so sturmreif geschossen, dass heute nicht mehr viel davon übrig ist. Die populäre Darstellung der wiederkehrenden Denkfehler, die sie akademisch beschrieben haben, sind eingesickert in die Wirtschaftsteile und Feuilletons der Tageszeitungen und stehen
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