Die steinerne Pforte
ihn durch eine Körperdrehung in die Luft und dann auf den Boden befördert. Nur dass Sam die »Vorschau« ja bereits gesehen hatte, weil Monk sie ihm -ohne sich dessen bewusst zu sein – zwei Sekunden vorher schon einmal vorgeführt hatte ... In dem Moment, als Monk seinen Unterarm anspannte und zu einer Körperdrehung ansetzte, warf Samuel sich mit aller Kraft zur selben Seite und zog Monk in seinem Lall mit. Mitgerissen durch den eigenen Schwung und sein Gewicht, schlug der Yeti ein halbes Rad, bevor er laut hörbar auf der tatami aufschlug.
»Waza-aril«, rief der Schiedsrichter.
Das Publikum war wie erstarrt vor Überraschung: 7 Punkte beide, Samuel hatte soeben ausgeglichen! Er sprang unverzüglich auf die Beine -auf dem Boden wäre er sofort verloren – und warf einen Blick auf die roten Ziffern der Anzeigetafel: achtunddreißig Sekunden ... Noch achtunddreißig Sekunden waren durchzuhalten!
Monk rappelte sich ebenfalls hoch. Der Yeti war nicht gerade besonders guter Laune, das musste man schon sagen. Er rückte nur eben seinen Gürtel zurecht und warf sich schnaubend wie ein Stier wieder in den Kampf. Mit vorgestrecktem Arm versuchte er, Sam am Ärmel zu packen, wobei der ihm, wie durch Zauberei, immer wieder entwischte, sodass seine großen Pranken ins Leere griffen. Vereinzelte Lacher explodierten unter den Zuschauern -Sam hätte schwören können, dass einer auch von Alicia kam. Das gab dem Yeti den Rest: Er geriet völlig außer sich.
»Ich werde dich ausradieren«, brüllte er los, »ich werde .. .!«
Der Schiedsrichter fuhr dazwischen und rief mit dem Fuß auf den Boden stampfend: »Hansoku-Make!«
Die beiden Kämpfer hielten wie erstarrt inne. Ein Engel schwebte durch die Halle, während der Schiedsrichter mit dem Finger auf Monk zeigte. Hansoku-Afake!, das bedeutete sofortige Disqualifizierung wegen Verstoßes gegen den Geist des Judo. Man durfte seinem Gegner nicht drohen .. . Monk war ausgeschieden! Sam hatte das Finale gewonnen!
Ein tropischer Wolkenbruch schien in der Halle loszubrechen: Ohrenbetäubender Applaus – das Publikum tobte, die Tribüne erzitterte unter dem Getrampel. Grandma schüttelte fassungslos den Kopf, Grandpa riss beide Daumen nach oben: Sieg! Die beiden Finalisten grüßten ab -Monk stand mit gesenktem Kopf da wie ein begossener Pudel –, und Sam wurde einen kurzen Moment später von Pete Moret und seinen Kameraden im Triumph hochgehoben. Auf einem Wald aus Armen und Schultern und unter lauten »Samuel! Samuel!«-Rufen machte er zwei Runden durch die Halle. Er suchte in der Menge nach Alicia. Da war sie, an einer Seite der Nordtribüne, und ihm war, als lächelte sie . . .
Nachdem sie ihn ausgiebig gefeiert hatten und die Medaillen vergeben waren, gelang es ihm endlich, zu den Duschen zu entwischen. Er genoss die plötzliche Ruhe und stand eine Ewigkeit unter dem warmen Wasserstrahl, bis der »Echoeffekt« sich endgültig gelegt hatte. Danke, Sonnenstein! Danke, Zeitreise! Anders hätte er Monk niemals überlebt! Niemals hätte er die Goldmedaille gewonnen!
Als er endlich in den Umkleideraum kam, triefnass, das Handtuch um die Hüften geschlungen, hatte er eine kurze Schrecksekunde lang die Vorstellung, dass Monk ihn vielleicht bei seinem Spind erwartete. Aber der Raum war leer; der Yeti hatte sich davongeschlichen!
Stattdessen klopfte jemand an eins der kleinen Oberlichter in der Außenwand. Sam versuchte, die Gestalt hinter der beschlagenen Scheibe zu erkennen. Sollte vielleicht Alicia . . .
Er drehte den Fensterknauf, sein Pulsschlag beschleunigte von null auf hundert in einer Sekunde.
»Lili?«
»Sammy, entschuldige, dass ich dich . . .«
Sie warf einen Blick in den Raum, als wollte sie sichergehen, dass niemand mithörte.
»Rudolf wartet mit Grandma und Grandpa auf dem Parkplatz auf dich; ich wollte nicht, dass sie mich sehen.«
Warum war sie auf einmal so blass? Er hätte sie gern in den Umkleideraum gelassen, aber der Fensterspalt war zu schmal.
»Weißt du, was ich gewonnen habe? Die Goldmedaille! Ich habe Monk besiegt, kannst du dir das vorstellen?«
»Ja, Pete Moret hat es mir erzählt, das ist großartig!«
»Was ist mit dir, geht es dir nicht gut?«, fragte Sam besorgt.
»Weißt du noch, ich wollte heute Morgen doch in die Bibliothek. Ich hatte ein paar Bücher zurücklegen lassen.«
»Ja, und?«
Sie zog ihre Tasche auf und holte ein Buch hervor.
»Ich ... ich habe versucht, mehr über Vlad Tepes herauszufinden. Alles, was ich kriegen
Weitere Kostenlose Bücher