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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Prevost Andre
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besorgt.
    »Alles klar, Grandma, ich habe nur noch ein paar Aufwärmübungen gemacht. Papa hat nicht zufällig angerufen?«
    Für den Bruchteil einer Sekunde senkte seine Großmutter betreten den Blick.
    »Nein, mein Schatz, hat er nicht. Vielleicht ja heute Mittag . . .«
    »Sagst du ihm dann, dass er mich von der Sporthalle abholen soll?« »Ja, natürlich.«
    Dabei klang ihre Stimme ungefähr so zuversichtlich, als wenn er gefragt hätte, ob wohl heute Tom Cruise zum Essen kommen würde.
    »Hier, Sammy, ich habe dir ein paar Brote gemacht. Und jetzt raus mit dir, sonst kommst du wirklich zu spät. Und pass auf dich auf, nicht wie im letzten Jahr.«
    Samuel biss sich auf die Lippen und schluckte eine Antwort hinunter. Er küsste seine Großmutter zum Abschied und schnappte sich sein Skateboard.
    Im Bus quetschte er sich in die hinterste Bank und starrte auf die kleinen Häuschen, die in endlosen Reihen vor dem Fenster vorüberzogen, während sie sich langsam dem Stadtzentrum näherten. Zehn Tage, und sein Vater hatte immer noch kein Lebenszeichen von sich gegeben ... Keine Mail, kein Anruf, keine Postkarte. Es war nicht das erste Mal, aber trotzdem. Zehn Tage! In der Familie erzählte man sich gern, dass Allan schon immer etwas sonderbar gewesen sei. Dass er im Alter von fünf Jahren einem Hund über zwei oder drei Kilometer hinterher rennen konnte, bevor er merkte, dass er sich verlaufen hatte. Dass er mit zehn angefangen hatte, abgeschnittene Fingernägel zu sammeln, und dabei sogar so weit ging, unzähligen Berühmtheiten zu schreiben, damit sie ihm welche schickten. Und das Schlimmste war, dass einige ihm sogar geantwortet hatten: ein Tennisspieler, eine Rocksängerin, ein Nachrichtensprecher aus dem Fernsehen ... Er hatte seine wertvollen Sammlerstücke in einem roten Ordner archiviert, den Grandma noch immer auf dem Dachboden aufbewahrte. Lauter durchsichtige Tütchen, jeweils mit Namen und Datum versehen und dem Begleitbrief. Mehrere Tage hintereinander hatte Allan vor dem Fernseher geklebt, um herauszufinden, zu welchem Finger des Nachrichtensprechers der kleine Hornsplitter gehörte, den er in seinen geliebten Ordner geklebt hatte – Sam ging eher davon aus, dass es sich um den Nagel irgendeines namenlosen Assistenten handelte, der sich um die Korrespondenz kümmerte.
    Sein Vater war jetzt aber schon lange nicht mehr zehn ... Er war alt genug, um keine abgeschnittenen Fingernägel mehr zu sammeln oder Hunden auf der Straße hinterherzulaufen, alt
    genug, um eine Nachricht zu hinterlassen, wenn er für ein paar Tage wegmusste. Doch Allan lebte nach dem Tod von Sams Mutter wie in einer anderen Welt. Früher hatten sie viel Spaß miteinander gehabt. Immer war er für ein spontanes Radrennen oder für eine Partie Burnout auf der Konsole zu haben gewesen, aber jetzt war er plötzlich verschlossen wie eine Auster. Großma schob es auf den Kummer, die Trauer, so etwas brauchte eben Zeit. Doch drei Jahre nach dem Autounfall wurde offensichtlich: Sein Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Grandma war sich dessen bewusst, weshalb sie ihren Sohn Anfang des Jahres davon überzeugt hatte, dass es besser war, wenn sie Sam für eine Weile zu sich nahm. Sein Vater hatte zuerst schwach protestiert, aber schon bald nachgegeben. Es war im Grunde vielleicht auch besser so: Er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich um seinen Sohn hätte kümmern können. Er schaffte es gerade noch, seinen Buchladen an zwei oder drei Tagen in der Woche zu öffnen, und auch dann nur auf Drängen von Grandma hin, oder wenn einer seiner treuen Kunden am Telefon nicht lockerließ. Weltschmerz nannte es Grandma, mangelnde Willenskraft, setzte Tante Evelyn – Lilis Mutter – dagegen, tiefe Depression, entschied der Arzt.
    Nun war Allan seit zehn Tagen verschwunden. Sicher, er hatte diese beunruhigende Angewohnheit, immer mal wieder abzutauchen. Einfach so. Aber bisher hatten diese kleinen Fluchten nie länger als zwei oder drei Tage gedauert. Meist kam er von seinen Ausflügen mit Armen voller Geschenke zurück, erklärte, er habe dringend in die USA reisen müssen, um für einen guten Kunden diese oder jene seltene Ausgabe zu beschaffen. Grandma hörte sich seine Geschichte jedes Mal geduldig an und knallte ihm zwei laute Schmatzer auf die Wangen, und Sam war zu glücklich, ihn wiederzuhaben, als dass er ihm irgendwelche Vorwürfe gemacht hätte.
    Dieses Mal allerdings konnte Allan sich offenbar nicht zur Rückkehr

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