Die Steinernen Drachen (German Edition)
ausdruckslosen Fressen. Sie hielten mir eine schlechte Kopie der Zeichnung des Drachens vor die Nase. Wollten wissen, ob ich ihr den Drachen tätowiert hatte. Zuerst versuchte ich, sie aus dem Laden zu schmeißen und drohte mit der Polizei. Das ließ die Burschen aber kalt. Sie verprügelten mich, schlugen meinen Laden kurz und klein, traten die Tätowiermaschinen kaputt und zerfetzten alle Vorlagen. Dann verlangten sie die Zeichnung des Drachens, die mir diese Le Ah daließ. Als ich mich erneut weigerte, zermalmte mir einer meine Hand unter seinem Absatz. Seitdem kann ich nicht mehr arbeiten. Ich kann mit der beschissenen Krüppelpfote keine Nadel mehr führen. Aus, vorbei!“
An seiner unrasierten Wange hatte sich eine Träne verfangen. Er wischte sie verächtlich weg, griff nach dem Glas, stellte aber fest, dass es leer war. Frank schob ihm seins hin und er trank hastig. Danach fing er wieder an, sich umzusehen und zu wippen. Seine langen Haare verstärkten die Bewegung.
„Hast du ihnen die Vorlage gegeben?“
Er nickte. Seine Augen glänzten. Wie um sich zu entschuldigen, hielt er ihm seine rechte Hand vor die Nase. „Seitdem sind sie hinter mir her. Sie beobachten mich, denn sie untersagten mir, je wieder zu tätowieren. Hab’ mich dran gehalten. Aber sie beobachten mich und wenn sie mich erwischen, bringen sie mich um. Keine Tätowierungen mehr. Hab’ mich dran gehalten!“
Der Wahnsinnige, der in den Bus stieg, war zurück. Er ignorierte sein Verhalten. Wenn es stimmte, was ihm Wiegand erzählte, dann hatte der Drache eine entscheidende Bedeutung. Klare Gedanken! Der Drache und die Frau!
„Der Drache, kannst du ihn genauer beschreiben, vielleicht sogar skizzieren? Ich muss wissen, wie er aussah!“
Wiegand zeigte ein gelbes Grinsen. „Muss ich nicht! Hab’ noch den Abdruck.“
„Abdruck?“
„Wenn ich ein Tattoo mache, kopiere ich die Vorlage spiegelbildlich auf ein Papier, das den Toner nicht fixiert. Die Kopie kommt auf die Haut, der Toner färbt ab und hinterlässt einen schwachen Abdruck der Umrisse. Die können dann mit der Nadel nachgezogen werden“, erklärte er. „Der Abdruck muss noch irgendwo sein.“
„Wo?“, wollte er wissen und legte eine gewisse Ungeduld an den Tag, als Wiegand lethargisch vor sich hinstarrte. Es war für ihn nicht erkennbar, ob der Tätowierer mit offenen Augen eingeschlafen war oder tatsächlich überlegte, wo die Abbildung des Drachens sein könnte. Nach etwa zwanzig Sekunden erhob sich Wiegand, schälte sich schlangengleich hinter dem Tisch hervor und
strebte auf den Ausgang zu.
„Was ist jetzt?“, brüllte er hinter ihm her. Der abgemagerte Mann hob seine Hand wie ein Dirigent und deutete ihm an, er solle ihn nicht beim Nachdenken stören. Er folgte ihm, roch dessen käsige Ausdünstungen.
„Ich weiß es jetzt!“, sagte Wiegand mit unheilschwangerer Stimme, als wollte er eine Beschwörung veranstalten und gestikulierte wirr mit den Händen. „Wir treffen uns morgen im Bus, selbe Zeit!“ Dann rannte er los.
Der Wirt hielt Frank zurück und forderte ihn unmissverständlich auf, die zwei Bier zu bezahlen. Als er damit fertig war und nach draußen eilte, war Wiegand verschwunden. „Also morgen im Bus“, murmelte er vor sich hin. In seinem Kopf begann es wieder zu pochen.
Das zweite Verhör
30. Juni 2003
Der Regen war ausgeblieben und die Hitze hatte sich durchgesetzt. Frank saß vor seinem Block. Als Überschrift hatte er wieder Laos geschrieben, darunter Drachen . Die Sonne ging bereits hinter den Häuserreihen auf der anderen Straßenseite unter. Eigentlich würde er jetzt hinter der Bar stehen. So sehr es ihn immer ärgerte, sich mit diesem Job über Wasser halten zu müssen, so sehr vermisste er ihn jetzt. Er beschloss, wieder mit dem Malen anzufangen, wenn das hier vorbei war. Dieser Entschluss half und er schöpfte neuen Mut. Erneut dachte er über Ralf Wiegand nach, dem es letztlich so ähnlich ergangen war wie ihm. Der Mann schien ein vielversprechender Tätowierer gewesen zu sein, doch das Schicksal wollte es anders mit ihm. Einmal den falschen Drachen auf den falschen Rücken tätowiert, schon war dein Leben vorbei.
Er schätzte, dass Wiegand jetzt auf der Straße lebte – immer auf der Flucht. Ob die Chinesen tatsächlich existierten, blieb dahin gestellt, zumindest für ihn waren sie immer gegenwärtig. Frank hoffte inständig, dass er die Zeichnung des Drachen wiederfinden würde.
Der Drache. Was hatte er für eine
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