Die Steinernen Drachen (German Edition)
überdimensionale Wattebäusche an dem lang gestreckten, bewaldeten Bergrücken. Oberhalb der Baumgrenze und weit über dem Nebel, prangte nackter, rötlich leuchtender Fels in dem wolkenverhangenen Himmel. Die hoch aufragenden Bergspitzen waren mit Schnee bedeckt. Alles war in ein diffuses, wässriges Licht getaucht, welches das Sichtfeld an den Rändern auf unerklärliche Weise weich und unscharf machte. Er hatte den Eindruck, schon einmal hier gewesen zu sein. Zu seinen Füßen schlängelte sich ein schmaler Pfad durch den Wald, hoch zu einem gewaltigen Bergmassiv. Etwas trieb ihn voran. Zum einen die innere Unruhe zu spät zu kommen, zum anderen die Angst vor etwas Großem und Unfassbarem. Etwas, von dem er bisher nur einen Schatten sah und dessen keuchenden Atem er hörte. Der Aufstieg war mühsam. Immer wieder rutschte er auf dem steil ansteigenden, schlammigen Untergrund aus und ging auf die Knie; krabbelte auf allen Vieren weiter, rutschte wiederum ein paar Meter zurück, kroch erneut voran. In seinen Augen brannte der Schweiß. Seine klammen Finger fanden nicht genügend Halt in dem kühlen Morast. Der Schatten hatte weniger Probleme mit dem Gelände als er.
Die Angst vor dem dunklen Jäger mahnte ihn zur Eile. Sein Nacken schmerzte, in seinem Mund schmeckte er Blut. Er hangelte sich von Baum zu Baum, klammerte sich an Äste und Lianengewächse, um sich daran hochzuziehen. Seine Handflächen brannten. Hinter ihm wurde das Rascheln der Blätter lauter, genau wie das Schnauben einer großen, wilden Kreatur. Das Unterholz begann zu zittern. Noch einmal steigerte er sein Tempo. Die physische Anstrengung erhitzte seinen Körper nicht, im Gegenteil, er fröstelte.
Unverhofft endete der dichte Wald und er stolperte auf ein freies Feld hinaus. Unten im Tal sah er große, überschwemmte Flächen, die durch niedrige Dämme eingegrenzt waren. Im kniehohen, trüben Wasser stand ein schwarzer Ochse mit mächtigen Hörnern, der wiederkäuend zu ihm hochblickte. Trotz der großen Entfernung, erkannte er deutlich die teilnahmslos dreinblickenden
dunklen Augen.
Auf einem Felsvorsprung über ihm saß ein kleiner grauer Affe, der ihn mit schrillen Schreien begrüßte und dabei aufgeregt hin und her wippte. Dann brach die Kreatur mit einem bis ins Mark erschütterndem Gebrüll aus dem Wald. Er fuhr herum. Sein Herz stand still. Rückwärts taumelnd, strauchelte er über einen Stein und fiel der Länge nach hin. Über ihm baute sich das furchteinflößende Wesen auf und verdunkelte den Himmel. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu und er rang um Atemluft. Der Affe rief unentwegt mit sich überschlagender Stimme: „Hab’ mich dran gehalten! Hab’ mich dran gehalten!“
Geifer tropfte aus dem Maul der Bestie auf sein Gesicht. Der Affe schrie: „Hab’ mich dran gehalten!“
Frank erwachte aus seiner Ohnmacht. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er lag auf dem nassen Betonboden und feuchte Kälte kroch in seine Knochen. Verwundert stellte er fest, dass er nicht mehr gefesselt war. Irgendjemand musste ihn während seiner Bewusstlosigkeit befreit haben. Von dem undichten Dach über ihm tropften rhythmisch schwere Wassertropfen auf seine Stirn.
Ralf Wiegand baumelte in der dunklen Ecke an einem rostigen Stahlträger und schrie: „Hab’ mich dran gehalten! Hab’ mich dran gehalten!“
Trotzdem und um ganz sicher zu gehen, dass es nur ein Traum gewesen war, suchte er die Halle nach der Kreatur ab. Sie war leer. Kein Monster und keine Chinesen. Die Asiaten waren verschwunden und er war nicht mehr an den Stuhl gefesselt. Für beides fand er keine Erklärung. Sein Genick schmerzte und sein Gesicht fühlte sich geschwollen an. Mit einem Ruck wich er dem nächsten Tropfen aus. Als er dabei den rechten Arm bewegte, tobte es unter dem Schlüsselbein. Sein Schulterbereich fühlte sich an, als wäre er damit in eine Presse gekommen. Mit zusammengebissenen Zähnen kam er auf die Beine und schwankte zu Wiegand. Der Tätowierer hörte auf zu brüllen und gab nur noch ein leises Winseln von sich. Er löste den Knoten des Seils mit dem man ihn an den Armen aufgehängt hatte. Wiegand fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Sein strähniges Haar klatschte auf den Beton, gab sein malträtiertes und blutverschmiertes Gesicht frei. Beide Augen waren zugeschwollen, seine Lippen aufgeplatzt und dick verkrustet. Ohne Rücksicht auf den körperlichen Zustand des dürren Mannes zu nehmen, zog er ihn hoch und schleppte ihn zur Tür. Nichts wie hier
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