Die Steinernen Drachen (German Edition)
2003
Diesmal stieg er schon am Schlossplatz in den 44er, um sicherzugehen, dass er keine Haltestelle verpassen würde. Er hoffte, dass auch die Zeit stimmte. Im Gegensatz zu Wiegand hatte er den Fahrplan nicht im Kopf und musste die Fahrtzeit bis zum Feuersee schätzen. Der Bus war alt und nicht klimatisiert. Draußen wie drinnen war es heißer als je zuvor in diesem Jahr, wenn nicht sogar in diesem Jahrhundert. Auf dem Weg zur Bushaltestelle hatte er in der Innenstadt auf einem Thermometer 41 Grad gelesen. Seit Mai hielt das warme Wetter an und schien nun den Zenit anzusteuern. Frank mochte mediterrane Temperaturen, aber dies war auch ihm zu viel. Sein Hemd klebte am nassen Rücken. Die Fahrgäste fächelten sich Luft zu, die keine Abkühlung brachte, denn die Hitze war allgegenwärtig. Der Asphalt kochte und trotzdem waren viele Menschen unterwegs. Alle erweckten sie den Anschein, als würden sie nach einem kühlen Plätzchen suchen.
Er entschied sich auch heute für die hinteren Bank. Das Busaggregat dröhnte laut in seinen Ohren - drei Haltestellen, ohne einen weiteren Fahrgast. Mit jeder Minute, die er in dieser fahrenden Sauna verbrachte, erhöhte sich seine Anspannung. An der nächsten Haltestelle stieg eine junge Punkerin mit kurzen, pink gefärbten Stoppelhaaren und unzähligen Piercings im Gesicht, ein. Ihren androgynen Körper umhüllte ein knappes, ärmelloses Kunstlederkleid, dessen giftgrüne Farbe in den Augen wehtat. Unter ihren Armen zeichneten sich große Schweißflecken ab. Die dünnen Beine steckten in einer gelben Strumpfhose mit Löchern an den Knien, die Füße in klobigen Armeestiefeln, was bei der Temperatur einer Folter gleichkam. Über ihrer Schulter baumelte lässig eine speckige, schwarze Lederjacke, aus der das Innenfutter in Fetzen heraushing und die bei 40 Grad absolut unnötig war. Ihre knochigen Oberarme waren mit Tattoos verziert. Sie hatte auffallend grüne Augen und ein hübsches Gesicht. Ihr Unterkiefer machte ausladende Kaubewegungen. In einem anderen Leben wäre sie eine Schönheit gewesen. Die Punklady kam direkt auf ihn zu. „Grabenstein?“, fragte sie schmatzend.
Er sah sie verwundert an. Sie streckte ihm einen braunen Umschlag entgegen. „Soll ich dir geben, von Ralf. Er sagt, du sollst vorsichtig sein!“
Dankend nahm er ihr den Umschlag ab. Sie blieb vor ihm stehen, hielt sich mit einer Hand an der Reling fest, die an der Decke entlang lief. Überrascht stellte er fest, dass auch ihre Achselhaare pink gefärbt waren. Satter Schweiß glänzte darin. Wenn der Bus über eine Unebenheit rumpelte, klimperten ihre Piercingstecker, -Ringe und Ketten im Gesicht. Spontan fragte er sich, wo an ihrem Körper noch Metall durch die Haut getrieben war.
„Was ist mit der Belohnung?“, erkundigte sie sich. Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und gab ihr zehn Euro.
„Immer wieder gern“, meinte sie und steckte den Schein in den Ausschnitt ihres Kleides.
„Was ist mit Ralf?“
„Keine Ahnung, er hat mir nur gesagt, ich soll dir den Umschlag geben, falls du im Bus sitzt. Tat wie immer verschwörerisch. Weißt schon! Der Mann hat so was von einem Schaden in der Hirnmechanik.“
„Wo ist er?“
„Hab’ ihn seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich abgestürzt. Ist noch ein bisschen früh für ihn. Hast du was zum Rauchen?“
Er schüttelte den Kopf. Sobald er an den Tätowierer dachte, zeichneten sich auf seiner Stirn Sorgenfalten ab. War Wiegands Paranoia berechtigt, oder war das nur wieder ein Spleen von ihm, diese Punkerin zu schicken?
„War’s das?“, wollte sie wissen.
„Ja! Danke, und sag Ralf einen schönen Gruß, wenn du ihn siehst“, gab er ihr mit auf den Weg. Sie machte irgendeine nicht definierbare Geste und drehte sich um. An der nächsten Haltestelle sprang sie aus dem Bus.
Ungeduldig öffnete er den Umschlag. Das Blatt darin war zweimal gefaltet. Im ersten Moment erkannte er nichts, nur ein paar schwache Striche, Flächen in verschiedenen Graustufen, Schmieren und Schlieren vom Falten. Er hielt das Papier mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Der Drache war da. Die Wirkung setzte ein, nachdem sein Blick ihn erfasst hatte. Obwohl die Abbildung schlecht war und sich nur Konturen und andeutungsweise Farbschattierungen abzeichneten, waren Effekt und Symbolik des Drachen ungebrochen. Eine Weile ließ er das Bild auf sich wirken und verfolgte die Linien mit seinen Augen. Die Vibration des Busses übertrug sich auf das Blatt in
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