Die sterblich Verliebten
krankhaften, absurden Obsession und imaginärer Stimmen. Was konnte Miguel schon mit einem Prostitutionsring zu tun haben, mit Mädchenhandel? Aber dass er beschloss, den Mund zu halten, war noch besser, oder? So bestand nicht das geringste Risiko, dass er Dritte mit hineinzog, auch wenn sie noch so sehr wie Gespenster klangen; dass er seltsame Telefonanrufe auf einem nicht existierenden, jedenfalls nicht auffindbaren Handy erwähnte, das nie auf seinen Namen registriert worden war, eine Stimme im Ohr, die ihm Dinge einflüsterte und ihm Miguel zeigte, ihm einredete, dass der für das Unglück seiner Töchter verantwortlich war. Soweit ich weiß, hat man die beiden ausfindig gemacht, und sie haben sich geweigert, ihn zu besuchen. Anscheinend hatten sie schon seit einigen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm, hatten sich völlig überworfen, für sie war er ein hoffnungsloser Fall, sie hatten ihn gänzlich abgeschrieben, der Schirmmützler war schon seit längerem sozusagen allein auf der Welt. Es scheint, sie gehen tatsächlich der Prostitution nach, aber aus eigenem Willen, soweit man angesichts der Not von Willen sprechen kann: Sagen wir, unter mehreren Fronarbeiten haben sie sich für diese entschieden und fahren nicht schlecht damit, beklagen sich nicht. Ich glaube, in der Luxuskategorie sind sie nicht, aber doch in der gehobenen, sie kommen gut zurecht, sind keine billigen Flittchen. Der Vater wollte nichts mehr von ihnen wissen und sie nicht von ihm, er muss schon immer ein Berserker gewesen sein. Wahrscheinlich hat er dann nachher, allein mit sich und immer wirrer im Kopf, an sie als kleine Mädchen gedacht, nicht an die älteren, hat in ihnen mehr die Verheißung als die Enttäuschung gesehen und sich eingeredet, dass man sie zu ihrem Tun gezwungen hatte. Die Tatsache hatte er nicht aus dem Gedächtnis gelöscht, aber vielleicht die Gründe und Umstände, hat sie durch andere ersetzt, die annehmbarer für ihn waren, wenn auch empörender, aber die Empörung verleiht Kraft und Leben. Was weiß ich: Er wollte wohl das Bild der kleinen Mädchen in seiner Phantasie behüten, wahrscheinlich gehörten sie zum wenigen, was sich für ihn noch retten ließ, diese beiden Gestalten, die beste Erinnerung aus seiner besten Zeit. Ich weiß nicht, wer oder was er war, bevor er zum Penner wurde; wozu nachforschen; all diese Geschichten sind traurig, man führt sich vor Augen, was diese Männer oder, schlimmer noch, diese Frauen früher einmal waren, als sie noch nichts von ihrem künftigen Hundeleben wussten, und dieser Blick in die ahnungslose Vergangenheit eines anderen ist schmerzlich. Ich weiß nur, dass er schon seit Jahren verwitwet war, vielleicht begann damals sein Abstieg. Es kam mir sinnlos vor, mich zu informieren, und ich verbot es auch Ruibérriz, für den Fall, dass er etwas über ihn herausbekam, mein Gewissen meldete sich ohnehin, weil ich ihn als Werkzeug benutzte, ich erstickte es mit dem Gedanken, dass er dort, wo er landen würde, wo er jetzt ist, besser dran wäre als in dem Autowrack, in dem er schlief. Dort wird er gut aufgehoben und versorgt sein, und eine Gefahr war er ja tatsächlich, wie sich erwiesen hat. Besser, er treibt sich nicht auf der Straße herum.« Sein Gewissen hat sich also gemeldet, dachte ich. So ein Witzbold. Da erzählt er mir all das, was ich im Grunde bereits weiß, und will dabei nicht als gewissenlos dastehen, sondern zeigt Skrupel. Wird wohl normal sein, vermutlich versuchen das so gut wie alle, die töten, erst recht, wenn man ihnen auf die Schliche kommt; zumindest wenn sie keine Killer sind, sondern es nur einmal tun und Schluss, wenigstens hoffen sie das, erleben es als Ausnahme, fast als schrecklichen Unfall, in den sie unfreiwillig verwickelt wurden (als eine Art Parenthese, nach der sie wie gehabt weitermachen können): ›Nein, das habe ich nicht gewollt. Es geschah in einem Zustand getrübten Bewusstseins, der Panik, im Grunde hat der Tote mich gezwungen. Hätte er den Bogen nicht überspannt, es nicht so weit kommen lassen, hätte er mehr Verständnis gezeigt, mich nicht so in die Enge getrieben oder in den Schatten gestellt, wäre er verschwunden … Glaub bloß nicht, dass ich es nicht bedauere.‹ Ja, das Bewusstsein der Tat muss kaum erträglich sein und wird wohl deshalb schrumpfen. Ja, er hat recht, es ist schmerzlich, einen Blick in die ahnungslose Vergangenheit eines anderen zu werfen, zum Beispiel in die des armen, glücklosen Desvern am Morgen seines
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