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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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scheint es, und so ist es. Gelegentlich kann es zu einem Rückschritt kommen, je nachdem, was uns das Leben bringt, aus Zufall, aber mehr nicht. Die Toten haben nur die Macht, die ihnen die Lebenden verleihen, und wird sie ihnen entzogen … Luisa wird sich von Miguel lösen, weit gründlicher, als sie es sich augenblicklich vorstellen kann, und ihm war das sehr wohl bewusst. Er wollte es ihr, soweit es ihm möglich war, sogar erleichtern, einer der Gründe, weshalb er zu mir kam mit seiner Bitte. Nur einer. Natürlich gab es noch einen gewichtigeren.«
    »Von welcher Bitte sprichst du denn wieder? Was für eine Bitte?« Ich konnte meine Ungeduld nicht bezähmen, mir schien, er wollte mich nun über die Neugier einwickeln.
    »Darauf komme ich jetzt, das ist die Ursache«, sagte er. »Hör gut zu. Mehrere Monate vor seinem Tod verspürte Miguel allgemeine Müdigkeit, nicht sehr ausgeprägt, kein Grund, zum Arzt zu gehen, er machte sich nicht ständig Gedanken über seine Gesundheit, es ging ihm gut. Bald darauf trat ein harmloses Symptom auf, eine leicht verschleierte Sicht auf einem Auge, er hielt es für vorübergehend und schob den Besuch beim Augenarzt auf. Als er dann doch ging, da die Sehstörung nicht von allein verschwand, untersuchte der ihn ausführlich und kam zu einer äußerst schlechten Diagnose: ein intraokulares Melanom von beträchtlicher Größe, und er überwies ihn an einen Internisten für eine umfassendere Untersuchung. Der Internist checkte ihn von Kopf bis Fuß durch, machte CT und Kernspin vom ganzen Körper, eine detaillierte Laboruntersuchung. Seine Diagnose war noch schlechter: Metastasen im ganzen Organismus oder, wie er es steril ausdrückte, fortgeschrittenes metastatisches Melanom‹, obwohl der Verlauf bei Miguel bis dahin fast asymptomatisch gewesen war, er hatte keine anderen Beschwerden verspürt.«
    Also hatte Desvern, wie mir früher einmal in den Sinn gekommen war, nicht zu Javier sagen können: ›Nein, ich denke nicht, dass mir etwas passiert, nicht in nächster Zeit, nicht einmal in fernerer Zukunft, ich frage nur so, ich bin rundum gesund‹, ganz im Gegenteil, dachte ich. Nun gut, das behauptet jetzt Javier. So nannte ich ihn noch an jenem Abend, das würde sich bald ändern, noch hatte ich nicht entschieden, mich mit Nachnamen an ihn zu erinnern, von ihm zu reden, damit ich Abstand bekam von der vergangenen Nähe oder es mir zumindest einredete.
    »Aha, und was sollte das genau bedeuten, abgesehen davon, dass es äußerst schlecht war?«, fragte ich und ließ dabei Skepsis, Unglauben mitschwingen: Erzähl, erzähl weiter, so einfach werde ich deine improvisierte Geschichte nicht schlucken, ich wittere schon, worauf du hinauswillst. Aber zugleich interessierte mich schon, was er zu schildern begonnen hatte, ob es nun die Wahrheit war oder nicht. Díaz-Varela unterhielt mich oft blendend, immer interessierte er mich. Also fügte ich hinzu, und diesmal schwang aufrichtige Besorgnis und dann auch Leichtgläubigkeit mit: »Kann denn so etwas geschehen, man ist so schwer krank und hat keine Symptome? Gut, ich weiß, das gibt es, aber so extrem? Ohne Vorwarnung? Und so fortgeschritten? Da kann einem ganz anders werden, nicht wahr?«
    »Ja, das kann geschehen und geschah Miguel. Aber kein Grund zur Sorge, zum Glück ist dieses Melanom ganz und gar nicht häufig, sehr selten sogar. Dir wird so etwas nicht passieren. Nicht Luisa, nicht mir, nicht Professor Rico, das wäre ein zu großer Zufall.« Er hatte meine flüchtige Angst bemerkt. Nun wartete er, dass seine Prophezeiung Wirkung zeigte und ich mich wie ein kleines Mädchen beruhigen ließ, wartete ein paar Sekunden, bevor er fortfuhr. »Miguel erzählte mir kein Wort, bevor er nicht alle Informationen zusammenhatte, und Luisa hatte er nicht einmal anfangs eingeweiht, als es noch nichts zu befürchten gab: dass er zum Augenarzt ging, etwas verschwommen sah; keinesfalls wollte er sie grundlos beunruhigen, und sie beunruhigt sich sehr leicht. Nachher sagte er erst recht nichts. Tatsächlich erzählte er keiner Menschenseele etwas, mit einer Ausnahme. Seit der Diagnose des Internisten wusste er, dass es hoffnungslos war, aber von ihm hatte er nicht alle Informationen erhalten oder nicht im Detail und vielleicht beschönigt, oder er hatte selbst nicht weiter gefragt, ich weiß nicht, er zog lieber einen befreundeten Arzt zu Rate, der ihm nichts verheimlichen würde, wenn er ihn darum bat: einen ehemaligen Schulkameraden, nun

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