Die sterblich Verliebten
dachte aber zugleich daran, wie viele andere in weit früherem Alter hatten gehen müssen; wie viele diesem zweiten Zufall erlegen waren, ohne dass sie wirklich Zeit gehabt hätten, etwas zu erfahren, ohne eine Gelegenheit bekommen zu haben: junge Leute, Kinder, Neugeborene, die noch nicht einmal einen Namen hatten … Er blieb konsequent, brach nicht zusammen. Wogegen er aber nicht ankam, was ihn überwältigte und aus der Fassung brachte, war die Art und Weise, der abscheuliche Prozess, das Langsame bei all der Schnelligkeit, die Verschlechterung, der Schmerz und die Verunstaltung, all das, was ihm sein Freund, der Arzt, ausgemalt hatte. Das zu erdulden, war er nicht bereit, geschweige denn zuzulassen, dass seine Kinder und Luisa das miterlebten. Dass irgendjemand das miterlebte. Er fand sich mit der Vorstellung ab, nicht mehr zu sein, aber nicht mit der, sinnlos zu leiden, monatelang aussichts- und zwecklos mit dem Tod zu ringen, und zudem ein entstelltes, einäugiges Bild von sich zu hinterlassen, ein Bild vollkommener Hilflosigkeit. Das sah er nicht ein, dagegen war ein Aufbegehren, ein Protest, ein Beeinflussen des Schicksals sehr wohl am Platz. Es lag nicht in seiner Hand, in der Welt zu bleiben, doch glimpflicher als angekündigt konnte er sie schon verlassen, dazu musste er sich nur ein wenig früher verabschieden.« Hier haben wir also den Fall, dachte ich, auf den das
he should have died hereafter
nicht zutrifft, weil dieses ›später‹ bedeuten würde schlechter, leidvoller, würdeloser, weniger tapfer, aber schreckenvoller für die Nahestehenden, es ist nicht immer wünschenswert, dass alles noch ein wenig länger dauert, ein Jahr, ein paar Monate, ein paar Wochen, ein paar Stunden, nicht immer scheint es uns zu früh zu sein, dass etwas oder jemand an sein Ende gelangt, und es stimmt auch nicht, dass wir niemals den geeigneten Augenblick sehen, es kann einer kommen, in dem wir uns sagen: ›Gut. Jetzt ist es gut. Es reicht, und das ist besser so. Was hiernach kommt, wäre weniger gut, würde verschlechtern, entwerten, beflecken.‹ Und in dem wir uns einzugestehen wagen: ›Die Zeit ist vorüber, auch wenn es unsere war.‹ Und selbst wenn das Ende von allem in unserer Hand läge, würde nicht immer alles endlos so weitergehen, würde verderben, verschmutzen, ohne dass je ein Lebender zum Toten würde. Man muss nicht nur die Toten ziehen lassen, wenn sie bleiben wollen oder wir sie zurückhalten; manchmal muss man auch die Lebenden freigeben. Und ich merkte, dass ich bei diesen Gedanken vorläufig und gegen meinen Willen der Geschichte Glauben schenkte, die mir Díaz-Varela erzählte. Während man zuhört oder liest, ist man eher bereit, zu glauben. Anders im Danach, wenn das Buch geschlossen ist oder die Stimme nicht mehr spricht.
»Weshalb hat er sich nicht umgebracht?«
Díaz-Varela sah mich abermals wie ein kleines Mädchen an, wie ein naives Ding.
»Was für eine Frage«, das musste er vorausschicken. »Wie die meisten Menschen war er dazu nicht fähig. Er wagte es nicht, konnte das Wann nicht selbst bestimmen: Warum heute statt morgen, wenn ich heute noch keine Veränderungen an mir sehe, mich nicht besonders schlecht fühle. Kaum jemand findet den Zeitpunkt, wenn er ihn selbst entscheiden muss. Er wollte vorher sterben, vor den Verheerungen der Krankheit, aber es war ihm unmöglich, dieses ›Vorher‹ zu bestimmen: Er hatte, wie gesagt, eineinhalb Monate oder zwei, wer weiß, ob etwas länger. Wie die meisten wollte auch er es nicht im Voraus und mit Sicherheit wissen, wollte nicht eines Tages mit der Gewissheit aufstehen und sich sagen: ›Das ist der letzte. Heute werde ich den Abend nicht erleben.‹ Ihm war nicht einmal damit gedient, dass andere es für ihn übernahmen, solange er wusste, was geschah, was ihm bevorstand, solange er den Zeitpunkt bereits kannte. Sein Freund erzählte ihm von einer Einrichtung in der Schweiz, einer ernsthaften, von Ärzten geleiteten Organisation mit Namen Dignitas, vollkommen legal, versteht sich (nun gut, dort legal), in der Menschen aus aller Herren Länder eine Freitodbegleitung beantragen können, wenn sie über ausreichend Gründe verfügen, und das entscheidet die Organisation, nicht der Antragsteller. Der muss seine lückenlose Krankengeschichte einreichen, man prüft, ob sie zutreffend ist und der Wahrheit entspricht; der ganze Prozess wird anscheinend minutiös vorbereitet, abgesehen von extrem dringenden Fällen, und zunächst versucht man
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