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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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sie, als hätte er sich zu viele Freiheiten herausgenommen, ja als wäre er zudringlich geworden – dabei hatte ich gar nichts gesagt, mein Verhalten ebenso wenig –, er kehrte zum Sessel zurück, setzte sich wieder mir gegenüber und sah mich fest mit seinen verschleierten oder unergründlichen Augen an, die niemals wirklich fest blickten, und mit diesem Kummer, dieser rückblickenden Verzweiflung, die sich kurz zuvor in seine Stimme geschlichen hatte und nicht mehr fortgehen sollte, nicht aus dem Tonfall, nicht aus dem Blick, als sagte er mir abermals: ›Warum verstehst du mich nicht?‹, ohne Ungeduld, sondern voll Mitleid.
    »Alles, was ich dir erzählt habe, ist wahr, soweit es die Ereignisse betrifft«, antwortete er. »Doch das Wesentliche habe ich dir noch nicht gesagt. Das Wesentliche weiß niemand, oder annähernd nur Ruibérriz, der zum Glück nicht mehr allzu viele Fragen stellt; er hört bloß zu, ist gefällig, folgt den Anweisungen und kassiert. Er hat dazugelernt. All seine Schwierigkeiten haben ihn in einen Mann verwandelt, der gegen Lohn zu vielem bereit ist, vor allem, wenn ihn ein alter Freund bezahlt, der ihn nicht hineinreiten, nicht verraten oder opfern wird, er hat sogar gelernt, diskret zu sein. Es ist wahr, auf welche Weise wir es getan haben und dass wir keine Gewissheit hatten, ob der Plan aufgehen würde, nicht die geringste, als hätten wir eine Münze geworfen; aber auf einen Killer wollte ich nicht zurückgreifen, das habe ich schon erklärt. Du hast deine Schlüsse gezogen, und ich nehme es dir nicht übel; vielleicht ein bisschen, aber teils verstehe ich dich auch: So und nicht anders sehen die Dinge aus, wenn man die Ursache nicht kennt. Ich will auch nicht leugnen, dass ich Luisa liebe und an ihrer Seite, in Reichweite bleiben möchte, falls sie eines Tages Miguel vergisst und ein paar Schritte in meine Richtung tut: Ich werde in der Nähe, in nächster Nähe sein, damit sie keine Zeit hat, es sich anders zu überlegen oder unterwegs zu bereuen. Ich glaube, früher oder später wird es so weit sein, eher früher; sie wird darüber hinwegkommen, wie alle Welt, ich habe dir schon einmal gesagt, die Menschen geben die Toten am Ende frei, sosehr sie an ihnen hängen mögen, wenn sie merken, dass ihr eigenes Überleben auf dem Spiel steht und dass die Toten ein gewaltiger Ballast sind; deren schlimmste Antwort darauf wäre, sich zu widersetzen, sich an die Lebenden zu klammern, sie heimzusuchen und am Voranschreiten zu hindern, ja sogar zurückzukehren, wenn sie können, Oberst Chabert aus der Novelle konnte und machte seiner Frau das Leben schwer, er fügte ihr größeren Schaden zu als durch seinen Tod in jener fernen Schlacht.«
    »Größeren Schaden hat sie ihm zugefügt«, entgegnete ich, »mit ihrem Leugnen, ihren Tücken, damit er weiterhin tot blieb und sie ihn seiner legalen Existenz berauben, ihn ein zweites Mal lebendig begraben konnte, diesmal jedoch nicht versehentlich. Er hatte viel gelitten, das Seine war das Seine, und er war nicht schuld daran, dass er noch unter den Lebenden weilte, geschweige denn, dass er noch wusste, wer er war. Er sagt sogar, der Arme, du hast es mir vorgelesen: ›Hätte mir die Krankheit jede Erinnerung an mein früheres Leben genommen, ich wäre glücklich gewesen.‹«
    Aber Díaz-Varela war für Diskussionen über Balzac nicht mehr zu haben, er wollte seine Geschichte zu Ende bringen. ›Was geschah, tut nichts zur Sache‹, hatte er gesagt, als er mir von
Oberst Chabert
erzählte. ›Es ist eine Erzählung, ihre Begebenheiten sind einerlei und vergessen, wenn man an ihr Ende gelangt.‹ Vielleicht dachte er, dass es mit den realen Begebenheiten anders war, mit denen unseres Lebens. Das mag für den stimmen, der sie erlebt, für die anderen jedoch nicht. Alles verwandelt sich in Erzählung, schwebt am Ende in derselben Sphäre, und man kann das Geschehene kaum vom Erfundenen unterscheiden. Alles wird am Ende zu Erzählstoff und klingt folglich gleich und fiktiv, so wahr es auch sein mag. Also fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt.
    »Ja, Luisa wird aus ihrem tiefen Loch heraufkommen, zweifle nicht daran. Sie ist sogar schon auf dem Weg nach oben, jeden Tag ein Stückchen weiter, das sehe ich, und es gibt kein Zurück, wenn man einmal mit dem Abschiednehmen begonnen hat, zum zweiten und letzten Mal, das nur im Geiste stattfindet und bei dem wir ein schlechtes Gewissen haben, denn es scheint, wir wollten uns des Toten entledigen, so

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