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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Gedanken, Doktor Vidal aufzusuchen, Vidal Secanell, mit dem zweiten Nachnamen war keine Verwechslung möglich. Ich fand sogar im Internet heraus, dass er in einem Ärztezentrum arbeitete, das sich Unidad Médica Angloamericana nannte, ein seltsamer Name, mit Sitz in der Calle Conde de Aranda, im Viertel Salamanca, es wäre ein Leichtes für mich gewesen, mir einen Termin zu besorgen, ihn zu bitten, mich abzuhorchen und ein EKG zu machen, wer sorgt sich nicht um sein Herz. Aber ich habe keine Ader für die Detektivarbeit oder nicht die richtige Einstellung, und vor allem hielt ich es für einen ebenso riskanten wie sinnlosen Schritt: Wenn mir Díaz-Varela diese Information so ohne weiteres gegeben hatte, würde der Arzt mit Sicherheit seine Version bestätigen, ob sie nun stimmte oder nicht. Vielleicht war Doktor Vidal ein ehemaliger Klassenkamerad von ihm, nicht von Desvern, vielleicht hatte er ihm eingeschärft, was er zu antworten hatte, wenn ich auftauchte und ihn ausfragte; außerdem konnte er jederzeit die Auskunft über eine fremde Krankengeschichte verweigern, auch wenn es sie vielleicht nie gegeben hatte, bei derlei Dingen herrscht Vertraulichkeit; ich hätte mit Luisa hingehen müssen, damit sie Aufschluss verlangte, doch sie wusste von nichts, hegte nicht den geringsten Verdacht, wie sollte ich ihr urplötzlich die Augen öffnen, das hätte bedeutet, gleich mehrere Entscheidungen zu treffen und die gewaltige Verantwortung auf mich zu nehmen, jemandem etwas zu offenbaren, was er vielleicht nicht wissen will, und was jemand nicht wissen will, weiß man erst, nachdem man ihm die Offenbarung gemacht hat, wenn das mögliche Übel sich nicht wiedergutmachen lässt, es ist dann zu spät für ein Zurücknehmen, für einen Rückzieher. Dieser Vidal konnte beteiligt sein, konnte Díaz-Varela einen großen Gefallen schulden, zur Verschwörung gehören. Aber das war nicht einmal nötig. Zwei Wochen waren vergangen, seit ich das Gespräch mit Ruibérriz belauscht hatte; Díaz-Varela hatte viele Tage Zeit gehabt, sich eine Version auszudenken und zurechtzulegen, die mich neutralisierte, sozusagen beschwichtigte; er hätte den Kardiologen unter einem beliebigen Vorwand fragen können (die Romanciers des Verlags, allen voran der eingebildete Garay Fontina, fragten pausenlos alle nur möglichen Fachleute derlei Dinge), welche schmerzhafte, abscheuliche und tödliche Krankheit es glaubwürdig rechtfertigte, dass sich jemand lieber umbringt oder einen Freund anfleht, ihn zu erledigen, wenn er es selbst nicht wagt. Womöglich war er ehrenwert und naiv, dieser Vidal, und hätte ihm die Auskunft treuherzig gegeben; und Díaz-Varela hätte damit gerechnet, dass ich niemals hingehen würde, auch wenn es mich reizen mochte, und so war es tatsächlich (tatsächlich reizte es mich, und ich ging nicht hin). Ich dachte, dass er mich besser kannte, als ich angenommen hatte, dass er während unserer gemeinsamen Zeit nicht so abgelenkt gewesen war, wie es schien, dass er mich gewissenhaft studiert hatte, und bei diesem Gedanken fühlte ich mich auf dumme Art etwas geschmeichelt, vielleicht die Überreste meiner Verliebtheit; die verschwinden nie mit einem Mal, verwandeln sich nicht sofort in Hass, Verachtung, Scham oder bloße Bestürzung, es ist ein langer Weg zu dieser Palette von Ersatzgefühlen, eine holperige Strecke, auf der sie langsam einsickern, verseuchen, sich kreuzen und vermischen, und nie hört die Verliebtheit ganz auf, solange sie nicht zur Gleichgültigkeit übergegangen ist oder zum Widerwillen, solange man nicht denkt: ›Wie überflüssig, zur Vergangenheit zurückzukehren, wie wenig Lust hätte ich, Javier wiederzusehen. Wie wenig Lust sogar, mich an ihn zu erinnern. Raus aus meinem Geist mit dieser Zeit, mit dem Unerklärlichen, mit diesem bösen Traum. So schwer ist es nicht, ich bin nicht mehr die, die ich war. Der Haken ist nur, auch wenn ich es nicht mehr bin, kann ich oft nicht vergessen, was ich war, und dann ist mir schlichtweg mein Name zuwider, und ich wünschte, ich wäre nicht ich. Aber eine Erinnerung beengt weniger als ein lebendiges Wesen, obgleich eine Erinnerung manchmal etwas Verzehrendes an sich hat. Aber diese hier nicht mehr, nicht mehr.‹
    Solche Gedanken ließen, wie vorhersehbar und begreiflich, auf sich warten. Ich musste einfach auf tausenderlei Weise (oder waren es nur zehnerlei, die sich wiederholten) in meinem Kopf hin- und herwenden, was Díaz-Varela mir erzählt hatte, seine beiden

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