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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Versionen, wenn es denn zwei waren, musste mir Gedanken über Einzelheiten machen, die mir in der einen oder der anderen undurchsichtig geblieben waren, es gibt keine Geschichte ohne blinde Flecke, ohne Widersprüche, Schatten oder Lücken, bei den wirklichen wie bei den erfundenen, in dieser Hinsicht – der Finsternis, die jede Erzählung umgibt und umhüllt – war es einerlei, welche was war.
    Ich schaute mir noch einmal die Artikel über Devernes Tod an, die ich im Internet gelesen hatte, und in einem stieß ich auf die Sätze, die mir nicht aus dem Kopf wollten: »Die Autopsie des Unternehmers ergab, dass dem Opfer sechzehn Stichwunden von seinem Mörder zugefügt wurden. Alle Stiche trafen lebenswichtige Organe. Fünf von ihnen waren nach Aussagen des Gerichtsmediziners tödlich.« Ich begriff nicht recht den Unterschied zwischen einer tödlichen Wunde und einer, die lebenswichtige Organe traf. Für einen Laien schien beides auf den ersten Blick dasselbe zu sein. Doch das war nicht die Hauptursache meines Unbehagens: Ein Gerichtsmediziner war im Spiel gewesen und hatte einen Bericht geschrieben, es hatte eine Autopsie gegeben, wie es bei einem gewaltsamen Tod bestimmt Vorschrift ist, jedenfalls bei einem Totschlag, aber wie war es da möglich, dass man nicht die ›Metastasen im ganzen Organismus‹ gefunden hatte, die Desvern nach Díaz-Varelas Worten vom Internisten diagnostiziert worden waren? An dem Abend damals war mir nicht in den Sinn gekommen, Díaz-Varela danach zu fragen, es war mir nicht aufgefallen, und jetzt wollte oder konnte ich ihn nicht mehr anrufen, schon gar nicht aus diesem Grund, er wäre argwöhnisch und nervös geworden oder hätte es satt gehabt und vielleicht andere Mittel ersonnen, mich zu neutralisieren, wenn er feststellte, dass ich mich von seinen Erklärungen oder seinem Theater nicht hatte beschwichtigen lassen. Ich konnte nachvollziehen, dass die Zeitungen das nicht aufgegriffen oder diese Information nicht einmal bekommen hatten, da sie in keiner Verbindung zu dem Geschehen stand, aber seltsam erschien mir, dass man Luisa nicht davon in Kenntnis gesetzt hatte. Bei unserer Unterhaltung damals lag es auf der Hand, dass sie nicht das Geringste von Devernes Krankheit wusste, ganz, wie er es sich gewünscht hatte, immer nach Aussage seines Freundes und indirekten oder ›ursprünglichen‹ Henkers. Ebenso konnte ich mir seine Antwort vorstellen, wenn ich ihn denn gefragt hätte: ›Glaubst du etwa, ein Gerichtsmediziner, der einen Mann vor sich hat, auf den sechzehnmal eingestochen wurde, hält sich mit weiteren Untersuchungen auf, kümmert sich um den allgemeinen Gesundheitszustand des Opfers? Womöglich haben sie ihn gar nicht aufgeschnitten und es deshalb nicht erfahren; womöglich kam es zu gar keiner Autopsie im engeren Sinn, und man hat das Formular mit links ausgefüllt: Miguels Todesursache war mehr als eindeutig.‹ Womöglich hätte er recht gehabt: Letztlich war das auch die Einstellung zweier nachlässiger Wundärzte zwei Jahrhunderte zuvor gewesen, obwohl ihnen Napoleon höchstpersönlich den Auftrag erteilt hatte: Da sie wussten, was sie wussten, hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, dem gefallenen und zertrampelten Chabert den Puls zu fühlen. Außerdem tut in Spanien alle Welt nur das Nötigste, um die Unterlagen auszufüllen, es herrscht wenig Drang, tieferzugehen oder Stunden mit Entbehrlichem zu verschwenden.
    Dann waren da all diese Fachausdrücke in Díaz-Varelas Mund. Es war kaum wahrscheinlich, dass er sie ein einziges Mal vor langer Zeit von Desvern gehört und behalten hatte, ja nicht einmal, dass der sie bei der Schilderung seines Unglücks zitiert hatte, sosehr sie auch seine Ärzte benutzt haben mochten, Ophthalmologe, Internist und Kardiologe. Ein verzweifelter, verängstigter Mann greift nicht auf einen so sterilen Wortschatz zurück, um einem Freund von seinem Todesurteil zu erzählen, das ist nicht normal. ›Intraokulares Melanom‹, ›fortgeschrittenes metastatisches Melanom‹, das Adjektiv ›asymptomatisch‹, ›das Auge resezieren‹, ›Enukleation‹, all diese Ausdrücke hatten geklungen wie kürzlich einstudiert, kürzlich Doktor Vidal abgelauscht. Aber vielleicht war mein Misstrauen unbegründet: Schließlich habe auch ich sie nicht vergessen, obwohl weit mehr Zeit vergangen ist, seit ich sie von ihm gehört habe, nur dieses eine Mal. Und vielleicht wiederholt und benutzt sie doch, wer an solch einer Krankheit leidet, als

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