Die sterblich Verliebten
könnte er sie so besser erklären.
Für den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte oder ihrer letzten Version sprach dagegen die Tatsache, dass Díaz-Varela es vermieden hatte, dick aufzutragen, was sein Opfer anging, seinen Kummer, seine widerstreitenden Gefühle, diese Qual, sich gezwungen zu sehen, seinen besten Freund zu beseitigen, plötzlich und gewaltsam – denn meist kann nur auf diese Weise eine Beseitigung plötzlich sein, das ist das Unglück – seinen besten Freund, den er am meisten vermissen würde. Dazu noch im Wettlauf mit der Zeit, innerhalb einer bestimmten Frist, im Wissen, dass ausgerechnet für diesen Fall mehr denn je galt
there would have been a time for such a word,
wie Macbeth hinzugefügt hatte, nachdem man ihm den ungelegenen Tod seiner Frau gemeldet hatte. Dass sich zweifellos ›die Zeit, eine andere Zeit für so ein Wort gefunden hätte‹, das heißt, ›für so einen Satz‹, so eine ›Nachricht‹ oder ›Mitteilung‹: Díaz-Varela hätte nur die Hände in den Schoß legen, den Auftrag ablehnen, die Bitte abschlagen müssen, um sie eintreten zu lassen, diese andere Zeit, die er nicht herbeigeholt, nicht beschleunigt, nicht aufgestört hätte; er hätte den Dingen nur den angekündigten, den natürlichen Lauf lassen müssen, wie immer erbarmungslos und unheilvoll. Ja, er hätte viel Gerede machen können über seinen Fluch oder sein Los, hätte seiner Aufgabe diese beiden Namen geben, seine Loyalität hervorheben, seine Selbstlosigkeit unterstreichen, ja sogar versuchen können, mein Mitleid zu erwecken. Wenn er sich gegen die Brust geschlagen, mir seine Angst beschrieben hätte, seine Gefühle, die er für sich hatte behalten, den Mut, den er hatte zusammennehmen müssen, um Deverne und Luisa vor noch größerem Leid zu bewahren, langsam und grausam, vor der Verschlechterung und Verunstaltung und dem Zuschauen, dann wäre ich misstrauischer geworden, hätte wenig Zweifel über seine Falschheit gehabt. Aber er war sachlich geblieben, hatte mir das erspart; hatte sich darauf beschränkt, mir die Lage zu schildern und seinen Anteil daran zu bekennen. Was er, wie ihm seinen Worten nach vom ersten Augenblick an klar gewesen war, hatte tun müssen.
Alles verhallt, manchmal allmählich, mit viel Mühe und Willensanstrengung, manchmal unverhofft schnell und ohne den Willen anzustrengen, vergeblich die Mühe, die Gesichter nicht verblassen und verschwimmen, die Ereignisse und Wörter nicht zu Schemen werden zu lassen, die nur mit dem geringen Gewicht derer durch unser Gedächtnis treiben, die man in den Romanen liest und in den Filmen sieht und hört: Ihre Begebenheiten sind einerlei und vergessen, wenn man an ihr Ende gelangt, selbst wenn sie uns gerade das vorführen können, was wir nicht kennen und was nicht vorkommt, wie Díaz-Varela gesagt hatte, als er mir von
Oberst Chabert
sprach. Ähnliches gilt für das, was uns jemand erzählt, wir kennen es nicht aus erster Hand, haben nicht die Gewissheit, dass so etwas vorgekommen ist, sosehr man uns auch versichert, dass die Geschichte wahr ist, nicht erfunden, sondern tatsächlich geschah. Jedenfalls ist es Teil des unbeständigen Universums der Erzählung, mit ihren blinden Flecken, ihren Widersprüchen, Schatten und Lücken, alle umgeben und umhüllt vom Halbdunkel oder der Finsternis, einerlei, wie erschöpfend und durchsichtig sie sich gibt, denn nichts davon kann sie je erreichen, weder das Durchsichtige noch das Erschöpfende.
Ja, alles verhallt, aber zugleich verschwindet nichts, nichts vergeht je ganz, es bleiben schwache Echos, scheue Nachklänge, die jederzeit auftauchen können wie Bruchstücke von Gedenksteinen im Saal eines Museums, das niemand besucht, leichenhaft wie die Ruinen eines Tympanons mit durchbrochener Inschrift, vergangene, stumme Materie, fast unentzifferbar, fast ohne Sinn, absurde Überreste, die man zwecklos aufbewahrt, denn zusammensetzen kann man sie nicht mehr, sie sind inzwischen mehr Verdunklung als Erhellung, weit mehr Vergessen als Erinnerung. Und doch sind sie noch da, niemand zerstört sie, niemand vereint sie mit ihren zerstreuten, vor Jahrhunderten verlorenen Teilen: Sie sind noch da, als kleiner gehüteter Schatz, als Aberglaube, als wertvolle Zeugen, dass jemand einmal lebte, dass er starb und einen Namen hatte, auch wenn er nicht vollständig erhalten ist, seine Rekonstruktion unmöglich wäre und dieser Jemand, der niemand ist, niemandem etwas bedeutet. Miguel Desverns Name wird niemals ganz
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