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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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angesteckt von ihr, es ist riskant, sich in einen anderen hineinzuversetzen, manchmal findet man nur mit Mühe wieder hinaus, vermutlich tun es deshalb so wenige, fast alle vermeiden es, sagen sich lieber: Nicht ich bin das, ich muss nicht erleben, was der erlebt, wozu soll ich mir seine Leiden aufladen. Diese bittere Pille ist nicht für mich, jeder schlucke seine eigene. »Und was es auch gewesen sein mag, es war einmal und ist vorbei: Es zählt nicht mehr. Er denkt nicht mehr, es geschieht nicht mehr.«
    Luisa schenkte sich nach, es waren sehr kleine Gläser, und fasste sich an die Wangen, eine halb nachdenkliche, halb erstaunte Geste. Sie hatte kräftige, lange Hände, nur mit dem Ehering geschmückt. Die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, wirkte sie schmaler, kleiner. Sie sprach wie für sich, als dächte sie laut nach.
    »Ja, das glaubt man immer. Dass Zurückliegendes weniger schwerwiegt als das, was gerade geschieht, und dass sein Zurückliegen es uns leichter machen sollte. Dass Vergangenes uns weniger schmerzt als das, was gerade erst vergeht, und dass sich besser ertragen lässt, was vorüber ist, so schrecklich es gewesen sein mag. Aber das würde bedeuten, dass ein Gestorbener weniger schwerwiegt als ein Sterbender, was nicht viel Sinn ergibt, meinst du nicht? Das Unwiderrufliche, Schmerzlichste besteht darin, dass er gestorben ist; und dass sein Sterben vorüber ist, bedeutet nicht, dass er es nicht erlitten hätte. Wie soll man sich sein Sterben nicht vergegenwärtigen, da es das Letzte war, was er mit uns, die wir noch leben, geteilt hat. Was für ihn auf diesen Augenblick folgte, liegt außerhalb unseres Horizonts, aber solange er anhielt, befanden wir uns noch hier in derselben Dimension, er und wir, und atmeten dieselbe Luft. Wir teilten noch die Zeit und die Welt. Ich weiß nicht, weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Sie machte eine Pause und zündete sich eine Zigarette an, die erste; sie hatten von Anfang an neben ihr gelegen, doch hatte sie sich noch keine angesteckt, als hätte sie sich das Rauchen abgewöhnt; womöglich hatte sie eine Zeitlang aufgehört und wieder angefangen, sporadisch: Sie kaufte welche, bemühte sich jedoch, sie zu meiden. »Außerdem geht nichts je vorüber, nimm nur die Träume, darin leben die Toten, und manchmal sterben die Lebenden. Ich träume viele Nächte von dem Augenblick, und dann bin ich tatsächlich dabei, bin vor Ort, weiß Bescheid, sitze mit ihm im Auto, und beide steigen wir aus, ich warne ihn, weil ich weiß, was ihm zustoßen wird, und trotzdem entkommt er nicht. Na, du weißt ja, wie das ist, die Träume sind wirr und klar zugleich. Ich verscheuche sie nach dem Aufwachen sofort, und in wenigen Minuten sind sie verblasst, die Einzelheiten vergessen; aber mir wird dann bewusst, dass die Tatsache bestehen bleibt, dass es stimmt und stattgefunden hat, dass Miguel tot ist und auf ähnliche Weise getötet wurde wie in meinem Traum, auch wenn die Traumszene augenblicklich verblichen ist.« Sie stand auf, drückte die halbe Zigarette aus, als wunderte sie sich, dass sie eine in der Hand hielt. »Weißt du, was mit am schlimmsten ist? Dass ich nicht wütend sein, keinem die Schuld geben kann. Niemanden hassen kann, obwohl Miguel eines gewaltsamen Todes gestorben ist, auf offener Straße ermordet. Hätte es ein Motiv gegeben, hätte man es auf ihn abgesehen, im Wissen, wer er war, hätte ihn jemand als Hindernis gesehen oder sich rächen wollen, was weiß ich, oder wenigstens ausrauben. Wäre er ein Opfer der ETA gewesen, könnte ich mich jetzt mit anderen Hinterbliebenen treffen, wir könnten gemeinsam die Terroristen hassen oder sogar alle Basken, je mehr man den Hass teilen, ihn verteilen kann, desto besser, nicht wahr?, je breiter, desto besser. Ich weiß noch, als ich ganz jung war, hat mich ein Freund wegen eines Mädchens von den Kanaren verlassen. Ich habe nicht nur sie gehasst, sondern beschlossen, alle Kanarier zu hassen. Eine absurde, fixe Idee. Wenn im Fernsehen Tenerife oder Las Palmas spielte, wünschte ich, dass sie verlieren, egal gegen wen, obwohl mich Fußball ziemlich kaltlässt und ich nicht einmal zusah, mein Bruder oder mein Vater schauten zu. Wenn es so eine schwachsinnige Miss-Wahl gab, wollte ich partout nicht, dass die Kanarierinnen gewannen, und bekam ständig Wutanfälle, weil sie meistens siegten, sie sind oft bildhübsch.« Sie lachte herzhaft über sich selbst, es war stärker als sie. Was sie amüsierte, das amüsierte sie

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