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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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sie nur häppchenweise hören, kurze Stücke, Lieder oder einen Sonatensatz, bei Längerem wurde sie müde oder ungeduldig; sie sah auch die eine oder andere Fernsehserie, die Folgen sind kurz, sie kaufte sie jetzt auf DVD , damit sie die Rücklauftaste drücken konnte, wenn sie nicht aufgepasst hatte, am Ball zu bleiben, strengte sie an, ihre Gedanken schweiften ab, irgendwohin oder immer zum selben Punkt, zu Miguel, zum letzten Mal, da sie ihn lebend gesehen hatte, auch das letzte, an dem ich ihn gesehen hatte, zum friedlichen kleinen Park der Ingenieurhochschule am Castellana, vor dem man auf ihn eingestochen hatte, gestochen und noch mal gestochen, mit einem sogenannten Butterflymesser, die doch anscheinend verboten sind. »Ich weiß nicht, als hätte man mir den Kopf ausgewechselt, ständig fallen mir Dinge ein, die ich vorher nie gedacht hätte«, sagte sie mit aufrichtiger Verwunderung, die Augen weit geöffnet, während ihre Fingerkuppen am Knie rieben, als juckte es, bestimmt war es nur Ruhelosigkeit. »Als wäre ich eine andere seitdem, eine andere Person mit einer umgepolten Denkweise, mir unbekannt und fremd, jemand, der plötzlich zu bestimmten Assoziationen neigt und über sie erschrickt. Ich höre ein Martinshorn, eine Polizeisirene oder die Feuerwehr und denke, wer wohl jetzt gerade stirbt oder verbrennt oder erstickt, und sofort überfällt mich der beklemmende Gedanke, wie viele mögen die der Streife gehört haben, die damals den Schirmmützler verhaftet hat, oder die der Ambulanz, die Miguel auf der Straße erste Hilfe leistete und ihn mitnahm, sie werden es achtlos gehört haben oder ärgerlich sogar, so ein Getute, du weißt schon, was jeder denkt, nun reicht’s aber, so ein Rabatz, ist bestimmt nur halb so wild. Fast nie fragen wir uns, welches konkrete Unglück dahintersteckt, es ist ein vertrautes Geräusch in der Stadt, ein Geräusch ohne wirkliche Bedeutung, eine bloße Belästigung, nichtssagend, abstrakt. Früher, als es noch nicht so viele gab, sie nicht so laut geheult haben und man auch nicht vermutete, dass die Fahrer sie grundlos anstellen, damit sie schneller vorankommen, man ihnen Platz macht, da haben sich die Leute noch über die Balkone gebeugt, um zu sehen, was los ist, ja haben darauf vertraut, dass die Zeitungen sie am nächsten Tag darüber aufklären. Heute beugt sich keiner mehr hinaus, wir warten, dass sie sich entfernen und mit ihrem Kranken, Verunglückten, Verletzten, Halbtoten aus unserem Gehörfeld verschwinden, damit sie uns vom Leib bleiben, nicht die Nerven strapazieren. Inzwischen beuge auch ich mich nicht mehr hinaus, aber in den ersten Wochen nach Miguels Tod konnte ich nicht anders, ich musste auf den Balkon oder ans Fenster stürzen und nach dem Streifenwagen oder der Ambulanz Ausschau halten, um ihr nachzusehen, solang ich nur konnte, aber meist sieht man sie vom Haus aus nicht, man hört sie nur, also ließ ich es bald bleiben, aber wenn eine aufheult, unterbreche ich immer noch, was ich gerade tue, recke den Hals und lausche, bis sie verklungen ist, ich lausche, als wäre es ein Klagen oder Flehen, als sagte mir jede einzelne: Bitte, ich bin ein schwerverletzter Mann, der mit dem Tod ringt, mich trifft keine Schuld, ich habe nichts getan, dass man mich niedersticht, ich bin aus meinem Wagen gestiegen wie an so vielen Tagen, und plötzlich spürte ich ein Stechen im Rücken, dann wieder und wieder und wieder, an anderen Stellen, ich weiß nicht einmal, wie oft, merkte nur, dass ich überall blutete, dass ich sterben sollte, ohne mich mit dem Gedanken vertraut gemacht oder es darauf angelegt zu haben. Lassen Sie mich durch, ich flehe Sie an, Sie haben es nicht halb so eilig, und falls es noch Rettung gibt, dann nur, wenn ich rechtzeitig ankomme. Heute ist mein Geburtstag, meine Frau weiß noch nichts, sie wird noch im Restaurant sitzen und auf mich warten, um ihn mit mir zu feiern, bestimmt hat sie ein Geschenk, eine Überraschung für mich, lassen Sie nicht zu, dass sie mich nur noch tot antrifft.«
    Luisa hielt inne, nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas, eine eher mechanische als bewusste Geste, es war nur noch ein Tropfen darin. Ihre Augen waren nicht leer, sondern glänzten, als entrückten sie diese Gedanken nicht, sondern weckten erst ihre Aufmerksamkeit, gäben ihr vorübergehend Kraft und verankerten sie fester in der Tatsachenwelt, wenn auch in einer vergangenen. Ich kannte sie kaum, hatte jedoch den Eindruck, dass die Gegenwart sie

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