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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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erschöpft, oder sie schämte sich, vor ihnen immer wieder mit dem Gleichen anzufangen, und nutzte nun jemand Frischen wie mich, um sich auszusprechen. Vielleicht war es ihr einerlei, wer ihr Gegenüber war, ihr reichte ein unverbrauchter Gesprächspartner, bei dem sie von Anfang an erzählen konnte. Auch das ist ein Nachteil, wenn man ein Unglück erleidet: Beim Betroffenen hält die Wirkung viel länger an als die Geduld derer, die gewillt sind, ihm zuzuhören und beizustehen, schnell versickert die Bereitschaft in der Eintönigkeit. So bleibt der Trauernde früher oder später allein, auch wenn sein Trauern noch nicht beendet ist, man gesteht ihm nicht zu, weiterhin von dem zu sprechen, was noch immer seine einzige Welt darstellt, denn diese Welt des Jammers wirkt unerträglich und schreckt ab. Er merkt, dass für die anderen jedes Unglück ein soziales Verfallsdatum besitzt, dass niemand für die Anschauung des Leids gemacht ist und sein Zurschaustellen nur für die kurze Phase der Erschütterung, der größten Seelenqual akzeptiert wird, in der sich der Geltungsdrang derer tummeln kann, die zusehen, beistehen und sich als unentbehrlich, als Retter, als nützlich empfinden. Doch sobald sie merken, dass sich nichts ändert, dass der Betroffene keine Fortschritte macht und sich nicht aufrappelt, fühlen sie sich gekränkt und überflüssig, nehmen es fast als Beleidigung und wenden sich ab: ›Bin ich ihm etwa nicht genug? Weshalb kommt er nicht aus seinem Sumpf, wo er doch mich zur Seite hat? Warum beharrt er auf seinem Schmerz, wo doch nun Zeit verstrichen ist und ich ihn abgelenkt und getröstet habe? Wenn er nicht wieder auf die Beine kommt, soll er untergehen oder verschwinden.‹ Und so tut der Niedergeschlagene Letzteres, er zieht sich zurück, entfernt, versteckt sich. Vielleicht klammerte sich Luisa an dem Abend an mich, weil sie bei mir noch die sein konnte, die sie weiterhin war, ohne es verbergen zu müssen: eine untröstliche Witwe, wie der Gemeinplatz besagt. Besessen, überdrüssig, leidend.
    Ich schaute zum Zimmer der Kinder und deutete mit dem Kopf in ihre Richtung.
    »Sie sind dir gewiss eine große Hilfe in dieser Lage«, sagte ich. »Dich um sie kümmern zu müssen, zwingt dich sicher jeden Morgen beim Aufstehen dazu, ein wenig Mut aufzubringen, stark und gefasst zu sein. Die Vorstellung, dass sie allein von dir abhängen, mehr noch als vorher. Sie mögen eine Bürde sein, aber auch ein mächtiger Rettungsring, bestimmt sind sie der Grund, den neuen Tag zu beginnen. Nicht wahr? Etwa nicht?«, fügte ich hinzu, als ich sah, dass ihr Gesicht noch trüber wurde und sich ihr größeres Auge verengte und dem kleineren anglich.
    »Nein, ganz im Gegenteil«, erwiderte sie und holte tief Luft, als müsste sie sich erst mit Gleichmut wappnen, um das Folgende zu sagen: »Ich gäbe alles darum, wenn sie jetzt nicht hier wären, ich sie nicht hätte. Versteh mich recht: Das ist keine plötzliche Reue, es ist lebenswichtig für mich, dass es sie gibt, sie sind das, was ich am meisten liebe, mehr als Miguel wahrscheinlich, das heißt, ich merke, dass ihr Verlust noch schlimmer gewesen wäre, eines jeden von ihnen, das hätte ich nicht überlebt. Aber im Moment komme ich nicht mit ihnen zurecht, sie sind mir eine zu große Last. Wenn ich sie doch ausklammern oder in Winterschlaf versetzen könnte oder dergleichen, sie schlafen legen und erst aufwachen lassen, wenn ich es sage. Ich wünschte, sie würden mich in Frieden lassen, mich nichts fragen, nichts verlangen, nicht an mir zerren, sich nicht an mich hängen, wie sie es tun, die Armen. Ich habe das Bedürfnis, allein zu sein, ohne Verantwortung, ohne Anstrengung, die mich überfordert, ohne daran zu denken, ob sie gegessen haben, warm angezogen oder verschnupft sind und vielleicht Fieber haben. Ich möchte den ganzen Tag lang im Bett bleiben können oder tun, was ich will, ohne mich um etwas kümmern zu müssen, nur um mich selbst, damit ich nach und nach wieder zu mir komme, ohne Störungen, ohne Verpflichtungen. Wenn ich denn je wieder zu mir komme, ich hoffe es, aber wie, weiß ich nicht. Ich fühle mich so schwach, und das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, sind zwei noch schwächere Menschen an meiner Seite, die sich nicht alleine helfen können und noch weniger als ich begreifen, was geschehen ist. Obendrein tun sie mir leid, ein unwandelbares, beständiges Mitleid, unabhängig von den Umständen. Die Umstände verschärfen es, aber es war von

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