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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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richtig, selbst inmitten ihres Kummers. »Ich schwor mir sogar, nicht mehr Galdós zu lesen, sosehr er Madrider sein wollte, er stammte doch von den Kanaren, und für lange Zeit verbot ich ihn mir strikt.« Wieder lachte sie, nun so offen, dass es ansteckend wirkte und auch ich über ihren inquisitorischen Einfall lachte. »Das sind irrationale, kindische Reaktionen, aber vorübergehend helfen sie, verschaffen dem Gemüt ein wenig Ablenkung. Jetzt bin ich nicht mehr jung und kann mir nicht mehr damit helfen, einen Teil des Tages wütend zu verbringen anstatt unentwegt traurig.«
    »Und den Parkeinweiser?«, fragte ich. »Kannst du den Schirmmützler nicht hassen? Oder alle Stadtstreicher?«
    »Nein«, antwortete sie, ohne nachzudenken oder als hätte sie das schon erwogen. »Ich wollte über diesen Mann nichts wissen, ich glaube, er hat die Aussage verweigert, hat sich von Anfang an in Schweigen gehüllt und bleibt stur dabei, aber er hat sich eindeutig geirrt und ist nicht richtig im Kopf. Anscheinend hat er zwei Töchter, die sich prostituieren, zwei junge Töchter, und er hat sich eingebildet, Miguel und Pablo, der Chauffeur, hätten damit zu tun. Unsinn eben. Er hat Miguel umgebracht, hätte aber ebenso gut Pablo umbringen können oder jeden Anwohner, den er zufällig aufs Korn genommen hätte. Auch er hat wohl Feinde gebraucht, jemanden, dem er die Schuld an seinem Unglück geben konnte. Was im Grunde alle tun, ob sie aus Unter-, Mittel- oder Oberschicht stammen oder aus allen Schichten gefallen sind: Niemand will heute wahrhaben, dass manches ohne einen Schuldigen geschieht, dass so etwas wie Unglück existiert oder die Menschen auf die falsche Bahn geraten, verdorben werden und das Unheil oder ihren Ruin selbst herbeiführen.« ›Du selbst warst deines Glückes Schmied‹, sagte ich mir, Cervantes gedenkend und zitierend, dessen Worten heute kaum noch jemand Beachtung schenkt. »Nein, ich kann nicht wütend auf den sein, der ihn für nichts und wieder nichts getötet, ihn sozusagen zufällig herausgepickt hat, das ist das Schlimme; auf einen Verrückten, einen geistig Verwirrten, der ihm persönlich gar nicht übelwollte, ja nicht einmal seinen Namen kannte, sondern in ihm nur die Verkörperung seines Unheils oder den Grund für seine traurige Lage sah. Ach, was weiß ich, was er gesehen hat, ist mir egal, ich stecke nicht in seinem Kopf, Gott bewahre. Gelegentlich lenken mein Bruder oder der Anwalt oder Javier, einer von Miguels besten Freunden, das Gespräch darauf, aber ich schiebe einen Riegel vor und sage, ich will keine mehr oder weniger hypothetischen Erklärungen, auch keine Nachforschungen ins Blaue hinein, das Geschehene wiegt so schwer, dass mir das Warum einerlei ist, vor allem, wenn es ein unbegreifliches Warum ist, das es nur in diesem trüben, kranken Geist gibt und geben kann, und das muss ich mir nicht anverwandeln.« Luisa drückte sich nicht schlecht aus, hatte einen breiten Wortschatz und benutzte Verben, die in der Alltagssprache nicht sehr häufig sind, wie »übelwollte« oder »anverwandeln«; schließlich war sie Dozentin für englische Philologie, wie sie gesagt hatte, lehrte Sprache und musste zwangsläufig viel lesen und übersetzen. »Dieser Mann hat, auch wenn es übertrieben klingen mag, den gleichen Stellenwert für mich wie ein Stück Mauersims, das dir im Vorübergehen auf den Kopf fällt, du hättest ebenso gut nicht in genau dem Moment vorbeikommen können: Eine Minute vorher, und du hättest es nicht mal bemerkt. Oder wie eine verirrte Kugel bei der Jagd, abgefeuert von einem Anfänger oder einem Schwachkopf, du hättest an dem Tag ebenso gut nicht aufs Land fahren können. Oder wie ein Erdbeben, das dich auf einer Reise erwischt, du hättest ebenso gut nicht an diesen Ort fahren können. Nein, ihn hassen, bringt nichts, das tröstet und stärkt mich nicht, es hilft mir nicht, auf seine Verurteilung zu warten oder mir zu wünschen, dass er im Gefängnis verfault. Ich habe nicht etwa Mitleid mit ihm, versteht sich, dazu bin ich nicht imstande. Was aus ihm wird, ist mir gleichgültig, nichts und niemand kann mir Miguel zurückgeben. Man wird ihn wohl in eine psychiatrische Anstalt einweisen, wenn es so etwas noch gibt, ich weiß nicht, was man heute mit den Geisteskranken macht, die eine Bluttat begangen haben. Man wird ihn wohl aus dem Verkehr ziehen, weil er eine Gefahr darstellt, damit er seine Tat nicht wiederholt. Aber ich bin nicht auf seine Bestrafung aus, das käme

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