Die sterblich Verliebten
gedacht hätte, dass ihm jemand hätte wehtun oder ihn verlassen wollen, und da ist er nun, für nichts und wieder nichts mit dem Messer aufgeschlitzt, unterwegs in die Vergessenheit. Ja, alle sind wir der Abklatsch von Leuten, die wir meist gar nicht kennen, Leute, die sich abseits hielten, vorbeizogen am Leben derer, die wir jetzt lieben, oder kurz darin verweilten, es mit der Zeit jedoch müde wurden und verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen oder nur die Staubwolke ihrer Füße, die fliehen, Leute, die denen sterben, die wir lieben, und eine tödliche Wunde schlagen, die sich am Ende fast immer schließt. Wir können nicht beanspruchen, die Ersten, Bevorzugten zu sein, wir sind nur, was verfügbar ist, sind die Überreste, die Rückstände, die Überlebenden, das, was zurückbleibt, der Saldo, und auf diesem wenig edlen Fundament erhebt sich mitunter die größte Liebe, gründen sich die besten Familien, das ist unser aller Ursprung, wir sind Ergebnis von Zufall und Konformismus, von dem, was andere abwarfen, zu dem sie sich nicht trauten, bei dem sie scheiterten, und trotzdem gäben wir manchmal alles darum, mit dem zusammenzubleiben, den wir einmal auf einem Dachboden oder bei einem Ausverkauf aufgegabelt oder beim Kartenspiel gewonnen haben oder der uns aus dem Abfall geklaubt hat; entgegen aller Wahrscheinlichkeit sind wir überzeugt von unseren zufälligen Verliebtheiten, und viele glauben, die Hand des Schicksals bei dem zu sehen, was nicht mehr ist als eine Dorftombola, wenn der Sommer zur Neige geht … Dann knipste ich die Nachttischlampe aus, sah bald darauf die im Wind rauschenden Bäume eine Spur deutlicher und hatte beim Einschlafen das Schaukeln ihrer Blätter vor Augen oder erahnte es nur. Welchen Sinn hat das, dachte ich. Keinen anderen, als dass uns inmitten solch dummer, unüberwindlicher Umstände der kleinste Wink genügt, der kleinste Halt. Noch ein Tag, eine Stunde an seiner Seite, auch wenn diese Stunde eine Ewigkeit auf sich warten lässt; die vage Verheißung, ihn wiederzusehen, so viele Tage auch vergehen mögen, so viele Tage Leere. Wir markieren im Kalender die, an denen er anrief oder wir ihn sahen, wir zählen die, an denen er sich nicht gemeldet hat, und warten bis tief in die Nacht, bevor wir sie endgültig als verödet und verloren abhaken, denn womöglich klingelt noch spätabends das Telefon, und er flüstert uns eine Albernheit zu, bei der wir eine grundlose Euphorie spüren, und dass das Leben gnädig und barmherzig ist. Wir interpretieren jede Modulation seiner Stimme, jedes belanglose Wort, dem wir eine dumme, verheißungsvolle Bedeutung beimessen und das wir uns ständig wiederholen. Wir wissen jeden Kontakt zu schätzen, und hätte er ihm auch nur dazu gedient, uns mit einer plumpen Entschuldigung zu kommen, uns zu versetzen oder eine wenig oder gar nicht ausgefeilte Lüge aufzutischen. ›Wenigstens einen Augenblick lang hat er an mich gedacht‹, sagen wir uns dankbar, oder ›er erinnert sich an mich, wenn er sich langweilt oder einen Rückschlag bei der erlitten hat, die ihm wichtig ist, bei Luisa, vielleicht komme ich an zweiter Stelle, und das ist immerhin etwas.‹ Das bedeutet manchmal – wenn auch nur manchmal –, dass nur der fallen müsste, der die erste besetzt, das ahnten schon die jüngeren Königsbrüder, die Prinzen, selbst fernste Verwandte und noch fernere Bastarde, die wissen, dass man auf diese Weise auch vom Zehnten zum Neunten, vom Sechsten zum Fünften, vom Vierten zum Dritten wird, und irgendwann werden sie alle im Stillen den unaussprechlichen Wunsch geäußert haben:
He should have died yesterday
: ›er hätte gestern sterben sollen oder vor Jahrhunderten‹; oder den, der anschließend in den kühnsten Köpfen aufflammt: ›Noch ist Zeit, dass er morgen stirbt, im Gestern des Übermorgen, wenn ich dann noch am Leben bin.‹ Es ist uns einerlei, dass wir uns vor uns selbst bloßstellen, letztlich wird uns niemand richten, es gibt keine Zeugen. Wenn wir im Spinnennetz gefangen sind, geben wir uns grenzenlosen Phantasien hin und begnügen uns zugleich mit der kleinsten Krume, damit, ihn zu hören, zu riechen, zu erahnen, zu erfühlen, damit, dass er noch in Sichtweite, nicht ganz verschwunden ist, dass man am Horizont noch nicht die Staubwolke seiner Füße sieht, die fliehen.
Vor mir verbarg Díaz-Varela nicht die Ungeduld, die er vor Luisa geheim halten musste, kam immer wieder auf sein Lieblingsthema zurück, das er mit ihr nicht
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