Die sterblich Verliebten
vom Hinterkopf bis zum rechten Auge zieht, stell dir das vor«, und er deutete ihren Verlauf an, indem er sich langsam mit dem Zeigefinger über den Kopf fuhr, »sie bildete eine ›gewaltige, wulstige Naht‹, in Balzacs Worten, der hinzufügt, dass der erste Gedanke beim Anblick solcher Wunde war: ›Durch diesen Spalt ist der Verstand entflohen!‹ Marschall Murat, derselbe, der in Madrid den Aufstand vom 2. Mai niedergeschlagen hat, bläst zur Attacke und schickt ihm tausendfünfhundert Reiter zur Hilfe, aber sie alle, Murat voran, reiten über Chabert, über seinen eben hingestreckten Körper hinweg. Er wird für tot erklärt, obwohl der Kaiser, der ihn sehr schätzt, zwei Wundärzte ausschickt, die überprüfen sollen, ob er tatsächlich auf dem Schlachtfeld verschieden ist; aber die beiden nachlässigen Feldscher, im Wissen, dass ihm der Schädel gespalten wurde und anschließend die Hufe zweier Reiterregimenter über ihn hinweggeprescht sind, machen sich nicht einmal die Mühe, ihm den Puls zu fühlen, und bescheinigen offiziell, doch leichthin, seinen Tod, welcher in den Bulletins des französischen Heers notiert, protokolliert, spezifiziert und somit zur historischen Tatsache wird. Man wirft ihn in eine Grube auf einen Haufen anderer Leichen, nackt, wie im Krieg üblich: So angesehen er im Leben auch gewesen war, jetzt ist er bloß ein Toter in der Eiseskälte, und alle landen am selben Ort. Auf unwahrscheinliche Weise, doch äußerst glaubwürdig, wie er es dem Pariser Anwalt Derville schildert, der seinen Fall übernehmen soll, erlangt der Oberst das Bewusstsein wieder, bevor er zugeschaufelt wird, hält sich für tot, merkt, dass er noch lebt, und arbeitet sich mit viel Mühe und Glück aus dieser Pyramide von Gespenstern heraus, von denen er wer weiß wie viele Stunden selbst eines gewesen war, wobei er hörte oder zu hören glaubte, wie er sagt«, und hier schlug Díaz-Varela das Büchlein auf und suchte ein Zitat, bestimmt hatte er sie alle angestrichen und vielleicht nach dem Buch gegriffen, um gelegentlich eins vorzutragen, »›ein Stöhnen, das aus der Welt der Leichen drang, in deren Mitte ich ruhte‹; und er fügt hinzu ›es gibt noch Nächte, in denen ich diese erstickten Seufzer zu hören meine‹. Seine Frau bleibt als Witwe zurück und geht nach einiger Zeit erneut die Ehe ein, mit einem gewissen Ferraud, einem Grafen, der ihr die Kinder schenkt, zwei an der Zahl, die ihr in der ersten Ehe versagt geblieben waren. Sie erbt von ihrem gefallenen, heldenhaften Militär ein stattliches Vermögen, fasst sich wieder und lebt weiter, sie ist jung, hat noch ein langes Stück Weg vor sich, und das ist das Entscheidende: der Weg, der uns aller Voraussicht nach bleibt, und wie wir ihn zurücklegen wollen, sobald wir beschlossen haben, in der Welt zu verweilen und nicht den Gespenstern zu folgen, die eine starke Anziehungskraft ausüben, wenn sie noch frisch sind, als versuchten sie, uns zu sich zu zerren. Wenn viele um uns herum sterben, wie im Krieg, oder auch nur ein einziger besonders geliebter Mensch, verspüren wir zuerst den Drang, mit ihnen zu gehen oder sie wenigstens mit uns zu schleppen, nicht loszulassen. Die meisten Menschen geben sie mit der Zeit jedoch frei, wenn sie merken, dass ihr eigenes Überleben auf dem Spiel steht, dass die Toten ein gewaltiger Ballast sind und jedes Vorankommen verhindern, ja jeden Atemzug, wenn man sich zu schwer von ihnen trennen kann, von ihrer dunklen Seite. Leider sind sie starr wie Gemälde, rühren sich nicht, tragen nichts bei, sagen nichts, antworten nie und treiben uns in die Enge, in einen Winkel ihres Bildes, das keinerlei Pinselstrich mehr zulässt, weil es bereits vollendet ist. Die Novelle schildert nicht das Leid der Witwe, wenn sie denn so litt wie Luisa, spricht nicht von ihrem Schmerz, ihrer Trauer, zeigt die Figur nicht in dem Moment, da sie die verhängnisvolle Nachricht erhält, sondern zehn Jahre später, 1817, glaube ich, aber es ist anzunehmen, dass sie dabei die obligatorischen Stadien durchlief (Entsetzen, Verzweiflung, Trauer und Trübsinn, Teilnahmslosigkeit, Angst und Beklemmung bei der Feststellung, dass die Zeit vergeht, dann die Überwindung), denn als vollkommen gewissenlos wird sie nicht dargestellt, zumindest nicht von Anfang an, man weiß es nicht genau, das bleibt im Dunkeln.«
Díaz-Varela unterbrach sich und trank einen Schluck von dem Whisky on the rocks, den er sich eingegossen hatte. Er hatte sich nicht wieder
Weitere Kostenlose Bücher