Die sterblich Verliebten
weniger einverstanden mit seiner Geschichte ist, mit dem, was ihm widerfuhr, was er getan und nicht getan hat, sosehr er auch das Gegenteil annimmt und es nicht akzeptieren mag. Eigentlich verfluchen fast alle ihr Schicksal irgendwann, und fast niemand akzeptiert es.«
Hier musste ich einfach eingreifen:
»Luisa kann nicht einverstanden mit dem Geschehenen sein. Niemand kann einverstanden damit sein, dass ihr Mann so sinnlos und dumm erstochen wurde, irrtümlich, grundlos, ohne dass er es heraufbeschworen hätte. Niemand kann einverstanden damit sein, dass man ihm für immer das Leben zerstört hat.«
Díaz-Varela sah mich aufmerksam an, die Wange auf die Faust gestützt, den Ellbogen auf den Tisch. Ich wandte den Blick ab, verwirrt von seinen reglosen Augen mit dem weder durchsichtigen noch bohrenden Blick, vielleicht verschleiert und umfangend oder einfach nur unergründlich, jedenfalls gedämpft von der Kurzsichtigkeit (vermutlich trug er Linsen), als wollten mir die schmalen Augen sagen: ›Warum verstehst du mich nicht?‹, ohne Ungeduld, sondern voll Mitleid.
»Das ist ja der Irrtum«, sagte er nach ein paar Sekunden, ohne den starren Blick von mir zu nehmen oder seine Haltung zu ändern, als spräche er nicht, sondern hörte zu, »ein Irrtum, wie er Kindern eigen ist, dem aber auch viele Erwachsene bis zum Tag ihres Todes anhängen, als hätten sie ihr ganzes Leben lang nicht begreifen können, wie es funktioniert, als entbehrten sie jeglicher Erfahrung. Der Irrtum, zu glauben, dass die Gegenwart ewig, alles Augenblickliche endgültig ist, obwohl wir doch alle wissen müssten, dass nichts endgültig ist, solange uns auch nur ein bisschen Zeit bleibt. Genügend Drehungen und Wendungen haben wir ja auf dem Buckel, nicht nur die des Schicksals, sondern auch die unseres Gemüts. Wir lernen mit der Zeit, dass wir dem, was uns so schlimm erschien, eines schönen Tages gleichgültig gegenüberstehen, wie einer bloßen Tatsache, einem Fakt. Dass der Mensch, ohne den wir nicht sein konnten, um dessentwillen wir nicht schliefen, ohne den wir uns unser Leben nicht vorstellen konnten, von dessen Worten, dessen Gegenwart wir Tag für Tag abhingen, uns eines schönen Augenblicks nicht einen einzigen Gedanken mehr wert ist oder nur selten und mit einem Schulterzucken, einen Gedanken, der es höchstens eine Sekunde zu der Frage schafft: ›Was mag aus ihm geworden sein?‹, ohne jede Sorge, nicht einmal mit Neugier. Was kümmert uns heute das Schicksal unserer ersten Freundin, deren Anruf oder die zu treffen wir so sehnsüchtig erwartet hatten? Ja was kümmert uns das Schicksal der vorletzten, seit einem Jahr schon haben wir sie nicht mehr gesehen? Was kümmern uns die Freunde von der Schule, der Universität, von später, auch wenn sich unser Dasein ein so langes Stück Weg um sie drehte, dass es nie zu enden schien? Was kümmern uns die, die sich loslösen, fortgehen, uns den Rücken zuwenden und sich entfernen, die wir fallenlassen und in Unsichtbare verwandeln, in bloße Namen, an die wir uns nur erinnern, wenn sie uns zufällig wieder zu Ohren kommen, die, die sterben und somit abtrünnig werden? Ich weiß nicht, meine Mutter starb vor fünfundzwanzig Jahren, und ich fühle mich zwar verpflichtet, voll Trauer daran zu denken, ja spüre sie dabei am Ende auch, kann jedoch nicht mehr die empfinden, die ich damals spürte, schon gar nicht weinen, wie ich es damals tat. Heute ist es eine bloße Tatsache: Meine Mutter starb vor fünfundzwanzig Jahren, und seit damals bin ich mutterlos. Es ist schlicht und einfach ein Teil von mir, ein Umstand unter vielen anderen, der mich ausmacht: Ich bin seit früher Jugend ohne Mutter, das ist alles oder fast alles, ganz wie ich Junggeselle bin oder andere von klein auf Waisen, Einzelkinder oder das jüngste von sieben Geschwistern sind oder von einem Militär abstammen, einem Arzt oder einem Verbrecher, einerlei, letztlich sind alles nur Umstände, nichts davon hat allzu viel Bedeutung, alles, was in unserem Leben vor sich geht oder uns vorangeht, passt in zwei Zeilen einer Erzählung. Luisa wurde ihr
jetziges
Leben zerstört, nicht das künftige. Stell dir vor, was für eine lange Strecke noch vor ihr liegt, sie wird nicht in diesem Augenblick gefangen bleiben, niemand bleibt in irgendeinem gefangen, schon gar nicht im schlimmsten, aus dem taucht man immer auf, nur nicht die mit krankem Gehirn, die sich vom bequemen Unglück gerechtfertigt, ja beschützt fühlen. Das Schlimme an so
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