Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
diese eine, geschweige denn zwei. Blitzschnell, fürchtete ich, konnte er sie dorthin verlagern, und bestimmt bemerkte er meine Unruhe, meine Anspannung, verminderte nicht den Druck auf meine Schulter, ja erhöhte ihn, wie mir schien, gern hätte ich mich losgerissen, wäre ihm entschlüpft, seine rechte Hand auf meiner linken Schulter, als wäre er ein Vater, ein Lehrer und ich ein Kind, eine Schülerin, ich fühlte mich klein, und das war sicher seine Absicht, damit ich ihm ehrlich oder zumindest ängstlich antwortete.
    »Du hast nicht gehört, was er mir erzählt hat, oder? Du hast geschlafen, als er kam, nicht wahr? Ich bin zu dir gegangen, um mich zu vergewissern, bevor ich mit ihm gesprochen habe, und da hast du tief geschlafen, du hast doch geschlafen, oder? Was er mir erzählt hat, ist sehr privat, er hätte gar nicht gern, dass noch jemand davon weiß. Auch wenn du eine Unbekannte für ihn bist. Es gibt Dinge, für die schämt man sich vor anderen, selbst vor mir musste er sich überwinden, es zu erzählen, obwohl er deswegen gekommen war und ihm gar nichts anderes übrigblieb, wenn ich ihm den Gefallen tun sollte. Du hast doch nichts mitbekommen, oder? Was hat dich geweckt?«
    Er fragte mich also doch auf den Kopf zu, sowenig sinnvoll das war, aber vielleicht auch nicht: Meine Antwort würde ihn mutmaßen, folgern lassen, ob ich log; zumindest glaubte er das. Doch nichts anderes würde es sein, bestenfalls eine Mutmaßung, eine Schlussfolgerung, eine Annahme, ein Einreden, es ist unglaublich, dass wir Menschen uns schon so viele Jahrhunderte lang unaufhörlich miteinander unterhalten und noch immer nicht wissen können, wann man uns die Wahrheit sagt. Wir hören ›ja‹, und immer kann es ›nein‹ bedeuten. Wir hören ›nein‹, und immer kann es ›ja‹ bedeuten. Wie viel Wissenschaft, wie viel technischen Fortschritt man auch aufbieten mag, wir wissen es nicht, nicht mit Sicherheit. Trotzdem hatte er mich direkt fragen müssen, sowenig es ihm nützte, ob ich mit ›ja‹ oder ›nein‹ antwortete. Sowenig Deverne die Zuneigung genützt hatte, die ihm all die Jahre lang einer seiner besten Freunde bekundet hatte, wenn nicht sein bester. Als Letztes hätte er sich vorstellen können, dass er von ihm umgebracht werden würde, und sei es aus der Distanz, ohne dabei zu sein, ohne selbst einzugreifen oder sich einen einzigen Finger schmutzig zu machen, so dass er sich später, in Tagen des Glücks oder gar des Jubels, bisweilen sagen konnte: ›Eigentlich habe ich es nicht getan, hatte nichts damit zu tun.‹
    »Nein, ich habe nichts gehört, keine Sorge. Ich habe tief geschlafen, wenn auch kurz. Außerdem hattest du die Tür geschlossen, ich konnte euch gar nicht hören.«
    Die Hand auf meiner Schulter drückte weiter, mir schien, etwas stärker nun, kaum spürbar, als wollte er mich ganz allmählich in den Boden hineintreiben, ohne dass ich es merkte. Oder vielleicht drückte er nicht einmal, vielleicht dehnte sich das Gewicht nur aus und verstärkte den Eindruck der drückenden Last. Ich zog die Schulter hoch, nicht schroff, im Gegenteil, ganz sanft, schüchtern, um ihm anzudeuten, dass ich sie lieber befreit sähe, den Klumpen Fleisch darauf nicht wollte, in dieser ungewohnten Berührung lag eine Spur von Erniedrigung: ›Spüre meine Kraft‹ konnte sie bedeuten. Oder ›stell dir vor, wozu ich fähig bin‹. Er achtete nicht auf meine sachte Geste – vielleicht allzu sacht – und kam auf seine letzte Frage zurück, die ich nicht beantwortet hatte, blieb beharrlich:
    »Was hat dich geweckt? Wenn du nur mit mir gerechnet hast, weshalb hast du dir fürs Herauskommen den Büstenhalter angezogen? Bestimmt hast du unsere Stimmen gehört, nicht wahr? Und etwas wirst du dann verstanden haben, meine ich.«
    Ich musste die Ruhe bewahren und leugnen. Je mehr Verdacht er schöpfte, desto mehr musste ich leugnen. Aber es durfte keineswegs mit Nachdruck, mit Emphase geschehen. Was ging es mich an, was er mit einem Kerl im Schilde führte, von dem er mir noch nie erzählt hatte, das war mein wichtigster Trumpf, mit dem ich ihn überzeugen, zumindest seine Gewissheit vorübergehend ins Wanken bringen konnte; was hatte ich für ein Interesse daran, ihn auszuspionieren, mir war einerlei, was außerhalb seines Schlafzimmers geschah, ja sogar innerhalb, wenn ich nicht drinnen war, darüber musste er sich im Klaren sein, unsere Beziehung war nicht nur vorübergehend, sondern auch eng umgrenzt, beschränkte sich auf

Weitere Kostenlose Bücher