Die sterblich Verliebten
ohne jede Scham betrachtet), gab nicht nach, ja musterte ihn meinerseits mit fragender, verständnisloser Miene oder was ich für eine solche hielt. Bis ich nicht länger standhielt und sie zu seinen Lippen senkte, an denen sich mein Blick seit dem Tag unserer Bekanntschaft so oft festgehakt hatte, ob er sprach oder schwieg, zu diesen Lippen, von denen ich nie genug bekam, die mich nie ängstigten, sondern anzogen. Sie waren nun mein Zufluchtsort, und dass mein Blick auf ihnen ruhte, hatte nichts Seltsames, so häufig kam es vor, war so normal, dass sich sein Argwohn dadurch nicht steigern konnte, ich hob einen Finger und berührte sie, fuhr ihre Linien sacht mit der Fingerkuppe nach, in einer anhaltenden Liebkosung, dachte, dass ich ihn dadurch besänftigen, ihm Vertrauen, Sicherheit geben, ihm ohne Worte sagen könnte: ›Nichts hat sich geändert, ich bin noch hier und liebe dich noch. Das ist kein Geheimnis, du weißt es längst und lässt dich von mir lieben, es ist angenehm, sich von jemandem geliebt zu fühlen, der nichts verlangen wird. Ich werde das Feld räumen, wenn du beschließt, jetzt ist es genug, mir die Tür öffnest und mich zum Fahrstuhl gehen siehst, im Wissen, dass ich nicht mehr zurückkommen werde. Wenn sich Luisas Leid endlich erschöpft hat und deine Gefühle erwidert werden, mache ich Platz, ohne zu klagen, ich weiß, ich bin in deinem Leben nur auf Abruf, einen Tag, noch einen Tag, den nächsten dann nicht mehr. Doch nimm es nicht schwer, keine Sorge, ich habe nichts gehört, habe nichts von dem erfahren, was du verbergen oder für dich behalten willst, und wenn doch, dann ist es mir einerlei, von mir hast du nichts zu befürchten, ich verrate dich nicht, bin mir nicht einmal sicher, gehört zu haben, was ich sehr wohl gehört habe, oder glaube es zumindest nicht, ich bin überzeugt, es muss ein Irrtum sein, eine Erklärung geben oder sogar – wer weiß – eine Rechtfertigung. Vielleicht hatte Desvern dir großes Unrecht zugefügt, hatte vielleicht zuerst versucht, dich umzubringen, ebenfalls über Dritte, ebenfalls hinterhältig, und es hieß nun, er oder du, vielleicht hattest du keine Wahl, auf der Welt war kein Platz für euch beide, was der Selbstverteidigung sehr nahe kommt. Mich brauchst du nicht zu fürchten, ich liebe dich, bin bei dir, werde dich vorerst nicht verurteilen. Und vergiss nicht, du bildest dir das alles nur ein, gar nichts weiß ich in Wirklichkeit.‹
Das dachte ich nicht etwa tatsächlich und in aller Klarheit, aber das war es, was mein Finger vermitteln wollte, der auf seinen Lippen verweilte, und er ließ es geschehen, während er mich weiterhin musterte, nach Zeichen suchte, die denen widersprachen, die ich ihm vorsätzlich sandte, sein Misstrauen war noch immer da, das merkte ich. Dagegen war schwer anzukommen oder gar nicht, nie würde es ganz verschwinden, würde abnehmen oder anschwellen, sich verdichten oder verdünnen, aber es bliebe immer da.
»Er war nicht hier, um mir einen Gefallen zu tun«, antwortete er. »Diesmal wollte er mich um einen bitten, deshalb musste er mich so dringend sehen. Aber danke für dein Angebot.«
Ich wusste, dass das nicht stimmte, die beiden steckten in derselben Klemme, da konnte der eine den anderen kaum herausholen, in ihrer Macht lag nur, sich gegenseitig zu beruhigen und einander einzuschärfen, abzuwarten, und darauf zu vertrauen, dass nichts weiter passierte, dass die Worte des Penners untergingen und niemand sich die Mühe machte, nachzuforschen. Genau das hatten sie getan, einander beruhigt und die Panik verscheucht.
»Keine Ursache.«
Da legte er mir eine Hand auf die Schulter, und ich spürte sie wie ein schweres Gewicht, als fiele ein Klumpen Fleisch auf mich herab. Díaz-Varela war nicht besonders groß oder stark, allerdings gut gebaut, aber die Männer holen Kräfte von wer weiß woher, fast alle oder die meisten, vielleicht kommen sie uns auch nur vergleichsweise so gewaltig vor, spielend können sie uns mit einer einzigen Drohgebärde, einer nervösen oder unangemessenen Geste einschüchtern, müssen uns nur am Handgelenk packen, uns allzu stürmisch umarmen oder auf die Matratze drücken. Ich war froh, dass meine Schulter vom Pullover bedeckt war, sonst hätte ich bei diesem Gewicht auf der Haut wohl zittern müssen, es war keine gewöhnliche Geste bei ihm. Er drückte mich, ohne mir weh zu tun, als wollte er mir einen Ratschlag geben oder etwas anvertrauen, ich stellte mir die Hand an meinem Hals vor,
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