Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
für mich sind sie alle in Ordnung.«
    Er ist jetzt ruhiger, dachte ich, weniger besorgt, weniger misstrauisch, das hatte er nötig nach dem Schreck. Aber später, wenn er allein ist, wird er wieder überzeugt sein, dass ich weiß, was ich nicht wissen sollte, was niemand außer Ruibérriz wissen darf. Er wird sich mein Verhalten vor Augen führen, ihm wird mein frühes Erröten beim Verlassen des Schlafzimmers einfallen, meine gespielte Unschuld die ganze Zeit über, er wird sich sagen, dass es mir nach dem zuvor erlebten Ungestüm nichts hätte ausmachen dürfen, wie er mich sieht, von wegen Büstenhalter, man entspannt sich hinterher, hat Zutrauen; er wird mir die Erklärung, die er jetzt vor lauter Überraschung akzeptiert, nicht mehr abnehmen, denn noch nie ist ihm in den Sinn gekommen, wie sehr manche von uns Frauen in jeder Lage auf ihre Erscheinung achten, darauf, was wir bedecken oder zur Schau stellen, sogar auf die Stärke unseres Stöhnens, und dass wir niemals ganz die Scham ablegen, nicht einmal inmitten heftigster Erregung. Er wird das alles noch einmal durchgehen und nicht wissen, was das Beste für ihn ist, ob er mich allmählich und ganz natürlich fortdrängen, ob er mit einem Schlag den Umgang mit mir abbrechen oder aber weitermachen soll, als wäre nichts geschehen, damit er mich im Auge behält und Tag für Tag die Gefahr der Denunziation ermessen kann, ein beklemmendes Gefühl, jemanden unentwegt interpretieren zu müssen, jemanden, der uns in der Hand hat, uns ins Verderben stürzen oder erpressen kann, solchen Befürchtungen hält man nicht lange stand, sucht auf allen Wegen Abhilfe, man lügt, erschreckt, täuscht, bezahlt, paktiert, beseitigt, Letzteres ist langfristig am sichersten – endgültigsten – und kurzfristig am riskantesten, ist zunächst am schwierigsten und später sozusagen am dauerhaftesten, man bindet sich für alle Ewigkeit an den Toten, läuft Gefahr, ihn im Traum lebendig zu sehen und zu glauben, man hätte ihn nicht beseitigt, worauf man sich erleichtert fühlt, weil man ihn nicht getötet hat, oder erschrocken und bedroht und Pläne schmiedet, es erneut zu tun; man läuft Gefahr, dass der Tote einem nachts ums Kopfkissen streicht mit seinem alten lächelnden oder finsteren Gesicht, die Augen weit geöffnet, die sich doch vor Jahrhunderten oder vorgestern geschlossen hatten, und einem flüsternd ins Ohr flucht oder fleht mit seiner unverwechselbaren Stimme, die keiner sonst mehr hört, läuft Gefahr, dass einem das Werk immer unvollendet und mühselig erscheint, eine endlose Aufgabe, jeden Morgen vor dem Aufwachen unerledigt. Aber all das kommt erst später, wenn er darüber nachgrübelt, was geschehen oder seiner Befürchtung nach geschehen ist. Vielleicht schickt er mir dann unter einem beliebigen Vorwand Ruibérriz vorbei, damit er mich aushorcht, ausspioniert, nichts Ernsteres hoffentlich, damit ein Mittelsmann etwa unsere Verbindung schwächer, blasser werden lässt, auch ich werde von heute an nicht mehr in Frieden leben. Aber jetzt noch nicht, wir werden sehen, ich muss die Gelegenheit ergreifen, dass ich ihn von seinem Argwohn abgelenkt, ein wenig belustigt habe, damit ich wegkomme von hier.
    »Danke für das Kompliment, du gehst sonst nicht verschwenderisch damit um«, sagte ich. Und ohne jede körperliche Überwindung, doch mit einer geistigen sehr wohl, näherte ich mein Gesicht und küsste seine Lippen mit meinen geschlossenen, trockenen, ganz sanft, ich hatte Durst, ähnlich wie meine Fingerkuppe zuvor ihre Linien entlanggefahren war, liebkoste nun mein Mund den seinen, ja, genau so, glaube ich. Genau so, mehr nicht.
    Da hob er die Hand, ließ meine Schulter fahren, nahm dieses verhasste Gewicht von ihr, und mit derselben Hand, die mir fast Schmerz bereitet hatte – wie ich allmählich zu spüren glaubte –, streichelte er mir die Wange erneut wie einem kleinen Mädchen, als hätte er die Macht, mich mit einer einzigen Geste zu bestrafen oder zu belohnen, als hinge alles nur von seinem Willen ab. Ich war drauf und dran, mich diesem Streicheln zu entziehen, es war nun etwas anderes, ob ich ihn berührte oder er mich, zum Glück unterdrückte ich es und ließ ihn gewähren. Als ich ein paar Minuten später die Wohnung verließ, fragte ich mich wie immer, ob ich sie je wieder betreten würde. Nur fragte ich mich diesmal nicht bloß mit Hoffnung und Verlangen, darunter mischten sich, ja was eigentlich: ich weiß nicht, ob Widerwille, Entsetzen oder

Weitere Kostenlose Bücher