Die Sternseherin
»Und jetzt schlage ich vor, du erledigst deine Aufgabe in der Earl Street, wenn du weißt, was gut für dich ist!«
Julen nutzt diese Chance, das Weite zu suchen. Während er bald darauf ein kompliziertes, magisches Ornament betrachtete, das kaum sichtbar über den Fenstern des Hauses flimmerte, beruhigte er sich allmählich. Jede noch so kleine Öffnung war damit versiegelt und widerwillig musste er zugeben, dass Asher mit seiner Einschätzung nicht verkehrt lag. Es würde schwierig werden, diese Magie zu entschlüsseln, und er wollte wetten, dass auch im Gebäude noch weitere hässliche Überraschungen auf einen Eindringling warteten. Der Dämon gehörte allerdings nicht dazu. Dessen war Julen sich sicher, trotz Ashers Skepsis was seine Fähigkeiten anging, andere magische Kreaturen zu spüren. Urian hatte sich noch nie Mühe gegeben, seine Präsenz zu verschleiern, und Julen hätte ihn ohnehin überall wahrgenommen, schließlich trug der Dämon das Blut seiner Familie in sich. Es war die Schwester seines Vaters gewesen, die diese Ausgeburt der Hölle zur Welt gebracht und sich wenige Jahre später aus Scham darüber umgebracht hatte. Julen wusste lange von all diesen Ereignissen nichts, die Jahrhunderte vor seiner Geburt stattgefunden hatten, bis er auf seinen Wanderungen durch die Welt seine Mutter wiedertraf und erfuhr, warum sein Vater seine Söhne nie besucht hatte.
»Er ist ermordet worden. Von Urian.« Seine stolze Mutter hatte bei diesen Worten geweint. »Euer Vater hat sich damals besonders für Urians Ausschluss aus der Gemeinschaft der Vampire eingesetzt. Der Bastard war eine unerträgliche Erinnerung an die Schande, die seiner Schwester angetan worden war.«
Ungeachtet dieser aufwühlenden Erinnerung prüfte Julen die Umgebung des Hauses gründlich. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Anschließend begann er, das Muster aus rötlich schimmernden Linien zu entwirren. Nach gut einer Stunde hatte er es endlich geschafft und wäre Julen kein Vampir gewesen, hätten ihm gewiss die Schweißperlen auf der Stirn gestanden. So aber bewegte ihn nach der langen Konzentration nur eine gewisse Unruhe, als er das Kraft seiner Gedanken entriegelte Fenster behutsam hinter sich schloss und begann, das Büro eines, wie er bald entdeckte, Wissenschaftlers zu durchsuchen.
XIII
Nachdem Julen fort war, tätigte Asher einen kurzen Anruf. Zehn Minuten später klopfte jemand an die Zimmertür. Zwei Männer grüßten und warteten höflich seine Einladung ab, bevor sie den Raum betraten. Einer von ihnen trug unter dem Arm eine Kiste aus Styropor. Er eilte zur Minibar, ging davor in die Hocke, öffnete sie und machte Platz für mehrere Beutel Blut. »Soll ich den Kühlschrank versiegeln?« Asher nickte. Der kleine Zauber würde verhindern, dass Angestellte des Hotels womöglich schreiend Alarm schlugen, weil sie den ungewöhnlichen Inhalt entdeckt hatten. Ihr Gehirn würde die Beutel nun einfach nicht mehr registrieren.
Er beobachtete, wie der Mann seine Arbeit erledigte, und wandte sich dann zu dem anderen um, der aus einer mitgebrachten Rolle eine dünne Folie zog. »Das Material ist selbstklebend und kann mehrfach wiederverwendet werden. Nur wenig Magie ist notwendig, damit Sterbliche es nicht bemerken.«
»Sehr gut. Bringen Sie den Schutz in beiden Räumen an.« Asher war zufrieden. Seit der Rat von ihnen verlangte, auf das Beißen Sterblicher zu verzichten, weil es dabei immer wieder zu Unfällen kam, hatten sich einige Anbieter am Markt etabliert, die Blutkonserven ins Haus lieferten. »Winterfield Ltd.« lieferte seit wenigen Wochen diese neuen Folien, mit deren Hilfe kein unerwünschter Sonnenstrahl mehr dem schlafenden Vampir seine wohlverdiente Tagesruhe raubte, wie sie sagten. Glasscheiben, die den gleichen Effekt hatten, konnte sich ein jeder mit ausreichend Geld schon seit längerem einbauen lassen. Im derart ausgestatteten New Yorker Penthouse seines Bruders hatte Asher tagelang aus den hohen Fenstern gesehen und das brodelnde Leben der City beobachtet, ohne auch nur ansatzweise Schaden zu nehmen. Im Gegensatz zu den geschaffenen Vampiren vertrugen Dunkelelfen wie Asher zwar direktes Tageslicht und fielen auch nicht bei Sonnenaufgang in eine komaähnliche Starre, aber eigentlich war die Nacht auch sein wahres Element. Ultraviolettes Licht schädigte die Haut eines Vampirs in noch weit stärkerem Maße als die der Sterblichen, und er benötigte Blut, um diese Verletzungen auszugleichen.
Weitere Kostenlose Bücher