Die Sternseherin
Stand es ihm nicht rechtzeitig und in ausreichender Menge zur Verfügung, so konnte sein Körper sich so sehr überhitzen, dass er früher oder später in Flammen aufging oder einfach vertrocknete. Einen trüber Wintertag, wie ihn der Wetterbericht für morgen vorausgesagt hatte, überstand er zwar weitgehend unbeschadet, aber um einen möglichen Angriff des Dämons zu verhindern oder um im schlimmsten Fall auch zurückschlagen zu können, würde er glasklare Sinne und einen Körper in Höchstform brauchen. Sollten seine Geschwister ihn ruhig verspotten, Asher war gerne gut vorbereitet. Und die Tatsache, dass er bereits mehr Jahrhunderte auf dieser Erde wandelte als die meisten seiner Artgenossen, sprach für seine Überlebensstrategie.
Estelle allerdings stellte ein schwer zu kalkulierendes Risiko dar. Er konnte nicht voraussagen, was sie als Nächstes tun würde und, obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, es faszinierte und verunsicherte ihn dies gleichermaßen. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum ihm das Schicksal eine halsstarrige Fee in Obhut gegeben hatte, die, statt bei ihrer Schwester sicheren Unterschlupf zu finden, lieber ihre eigenen Wege ging. Asher besaß eine genaue Vorstellung davon, wie seine ideale Partnerin zu sein hatte. Estelle hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dieser Traumfrau. Die Feentochter war weder sanftmütig noch folgsam und von Tugendhaftigkeit, er musste schmunzeln, war sie weit entfernt.
Jenen Abend, als er Estelle während des Konzerts aus der Menschenmenge gerettet hatte, weil ein Anfall sie fast hatte besinnungslos werden lassen, würde Asher nie vergessen. Er konnte sich nichts Erotischeres vorstellen als den Anblick einer sinnlichen Schönheit, auf deren Lippen Blut glänzte. Und sehr wahrscheinlich hätte er ihr damals wenigstens einen winzigen Kuss gestohlen, wäre in jenem Moment nicht ihre Zunge erschienen, um einen roten Tropfen aufzulecken. Als eine neue glitzernde Perle hervorgequollen war, hatte er diese blitzschnell mit seinem Daumen aufgefangen und von ihrem Blut gekostet. Sein Körper hatte sofort reagiert. Der Hunger war in ihm gewachsen, die Zähne hatten in seinem Kiefer geschmerzt und dann hatte glücklicherweise Manon verhindert, dass er sie ungeachtet der Konsequenzen in aller Öffentlichkeit biss. Seither wurde seine Selbstbeherrschung täglich auf die Probe gestellt und der Tag war nicht fern, da würde die dunkle Kraft in seinem Inneren hervorbrechen, den zarten Schleier von Zivilisation und Disziplin zerreißen und in Fetzen zurücklassen. Ihn erschreckte, wie stark Estelle ihn in ihren Bann zog. Noch größer jedoch war sein Schock, als er erkannte, dass er sich danach sehnte, den Kreis zu schließen, indem er sie von sich trinken ließ. Aber was dachte er sich eigentlich? Trotz ihrer äußeren Gelassenheit saß ihre Furcht vor der Dunkelheit, die er in sich trug, tief. Egal, wie sehr er sich wünschen mochte, dass sie ihm ganz vertraute, dies würde nie geschehen. Und vielleicht war es auch besser so. Glücklicherweise besaß wenigstens Estelle gute Instinkte. Sie zumindest behielt eine gewisse innere Distanz, während er zum Spielball seiner Leidenschaften geworden war. Seine Entgleisung hatte aber auch etwas Gutes, nun konnte Asher jederzeit ihre Stimmungen und Launen spüren, obwohl er nicht versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Er klammerte sich an diesen letzten Rest Würde, der von ihm verlangte, ihre Privatsphäre zu respektieren. In die Landschaft ihrer Gedanken einzudringen erlaubte er sich genauso wenig, wie sie zu beißen und damit weiter an sich zu binden. Aber diese Überlegungen waren müßig, Estelle konnte nicht seine Seelengefährtin sein. Sie durfte es einfach nicht, denn sein Weg war längst vorgezeichnet.
»Können wir sonst noch etwas für Sie tun, Sir?«
»Vielen Dank, das war alles.« Asher ließ nicht erkennen, welch trüben Gedanken er nachgehangen hatte. Er verabschiedete die Männer mit einem großzügigen Trinkgeld, folgte ihnen und betrat kurz darauf Zimmer 211. Von Julens früherer Untersuchung konnte er keine Spuren entdecken. Gut. Rasch sicherte er die Fenster mit einem leichten Zauber, der praktisch nicht zu bemerken war, aber als eine Art Alarmanlage funktionieren würde. Sollte jemand versuchen, hier einzudringen, wäre er gewarnt und könnte der Bewohnerin zu Hilfe kommen. Anschließend ging er die Treppe hinab und setzte sich in die gut besuchte Bar. Von seinem Platz aus sah Asher seine Fee, die sich
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