Die Sternseherin
Wintermorgens in der Stadt über sich lauschte, fühlte er noch immer die Nachwehen ihres Albtraumes. Er hatte jede Sekunde ihrer Pein miterlebt, als wäre es seine eigene gewesen. Und er erinnerte sich plötzlich wieder an eine lange zurückliegende Zeit, in der er selbst unentwegt von ähnlich beängstigenden Träumen und Visionen gequält worden war. Wie alle geborenen Vampire war auch Asher in seiner Kindheit und Jugend kein Vampir gewesen. Weniger anfällig für Krankheiten zwar und mit einem gut entwickelten Instinkt für Gefahren ausgestattet, aber nichtsdestotrotz durchaus sterblich. Ein Dolchstoß wäre für ihn ebenso tödlich gewesen wie für seine adligen Freunde, mit denen er eine unbeschwerte Zeit verlebt hatte.
Zärtlich strich er über Estelles Stirn. Asher wusste, dass sie noch einige Tage wie diesen gemeinsam durchstehen mussten, bevor er sicher sein konnte, dass sie überleben würde. Das war im Prinzip nichts Ungewöhnliches für eine Transformation, aber es zerriss sein Herz, sie so leiden zu sehen. Die Zwillinge ahnten augenscheinlich nicht, dass sie, anders als ihre ältere Schwester, von einem Vampir gezeugt worden waren. Weil er dies jedoch schon eine ganze Weile vermutet hatte, hatte er sich kundig machen wollen. Während der vergangenen Wochen hatte er sich intensiver mit ihrer Familiengeschichte befasst und im Haus der Feen in einem verborgenen Winkel Tagebücher der Mutter gefunden. Die Journalistin war tatsächlich auf einer Reise einem geborenen Vampir begegnet und hatte mit ihm eine kurze Affäre gehabt. Feen galten als sinnliche Geschöpfe, da blieb so etwas nicht aus, auch wenn sie ihren sterblichen Partner liebten. Vampire, dachte Asher, sind eben doch die besseren Liebhaber. Von weiblichen Nachkommen konnte man, bis auf wenige Ausnahmen, in den Annalen der Dunkelelfen nichts lesen. Seit Jahrhunderten hatte es keine Hinweise auf ein derartiges Ereignis gegeben. Estelles Mutter, entnahm er ihren Notizen, wollte erst nicht glauben, dass ihr Abenteuer so kostbare Früchte getragen hatte. Bald aber war sie sicher und beschloss, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Er mochte es ihr nicht verübeln. Asher wusste nicht, woher der Vampir stammte oder wie alt er war, aber offenbar ahnte er nicht, dass er Nachkommen gezeugt hatte. Der Rat, dachte Asher, würde diese Nachricht begeistert aufnehmen und sicherstellen, von diesem außerordentlichen Ereignis zu profitieren. Um so wichtiger war es für ihn, Estelle zu beschützen. Die Tatsache, dass bisher niemand ihr Geheimnis herausgefunden hatte, war eine ebenso große Sensation wie die Geburt der Zwillinge. Bei Julen war er sich allerdings nicht ganz sicher, ein weiterer Grund, den jungen Vengador so schnell wie möglich zu finden. Nell ahnte glücklicherweise nichts.
Gegen Mittag erwachte Estelle. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie hätte gerne einen Schluck Wasser getrunken, vielleicht fände sich sogar eine Kopfschmerztablette in dem luxuriösen Bad, dachte sie. Aber Ashers Arm erlaubt ihr keine Bewegung, er hielt sie dicht an seinen athletischen Körper gepresst. Als sie versuchte, sich unter ihm fortzuschlängeln, wurde sein Griff fester. »Wohin willst du, Sternchen?«
Ihr wurde warm ums Herz, er war schließlich doch zu ihr gekommen. »Ich habe Durst.«
»Du hast einen Kater!«, stellte er richtig und sein Mundwinkel zuckte.
Asher war versucht, den Göttern auf Knien dafür zu danken, dass ihre Vergiftung nur leicht gewesen war und sie die Nacht überstanden hatte. Wahrscheinlich würde sie sich noch ein oder zwei Tage lang schlecht fühlen, aber das Schlimmste war vorüber. Er hätte gerne gewusst, ob sie sich daran erinnerte, was genau sie getrunken hatte, mochte sie aber mit einer entsprechenden Frage nicht beunruhigen. Der Vampir rollte sich auf den Rücken und sah sie an. »Definitiv ein Kater!«, bemerkte er und fuhr mit dem Zeigefinger die feinen Linien nach, die das Kopfkissen in ihrem bleichen Gesicht hinterlassen hatte.
Sie runzelte die Stirn und schien nachzudenken. »Ich wüsste nicht ...«, begann sie, da glomm Erinnerung in ihren Augen auf. »Der Single Malt!«
Neugierig sah Asher sie an. Würde sie sich an weitere Einzelheiten erinnern? Es schien nicht so. »Mein Single Malt.«
»Wusste ich es doch.« Sie stützte sich auf. »Du bist nicht nur keineswegs zum ersten Mal hier, du hast sogar ein komplettes Appartement, eine Wohnung in diesem verrückten unterirdischen Bau.«
Er hätte sich ohrfeigen können.
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