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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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schwankte sie ein wenig und musste sich an der Tischkante festhalten. »Der Fusel ist wohl vom Discounter – würde mich nicht wundern, bekannterweise wird im Bordell ja häufig minderwertige Ware angeboten.« Sie freute sich. Vorabendserien waren doch ein unerschöpflicher Quell nützlichen Wissens. »Warum lese ich überhaupt noch? Egal! Hau weg das Zeug!« Diesen Spruch kannte sie aus ihrer Schulzeit, als die männliche Jugend versucht hatte, sich im Beweisen ihrer Trinkfestigkeit gegenseitig zu übertreffen. Estelle runzelte die Stirn. Aber sie war nicht betrunken, sondern wissensdurstig. Sie freute sich über ihr vermeintlich brillantes Wortspiel und schnupperte am Flaschenhals. Der Duft war längst nicht so eklig, wie sie vermutet hatte, im Gegenteil, ihr lief das Wasser im Mund zusammen und sie musste mehrmals schlucken. Vorsichtig setzte sie den gekühlten Flaschenhals an ihre Lippen und ließ einige Tropfen über ihre Zunge laufen. »Nicht schlecht!« Aber warm wäre besser, befand sie, goss kurzerhand das mitgebrachte Whiskyglas bis zum Rand voll und stellte es in den Mikrowellenherd. »Deckel nicht vergessen und los!« Interessanterweise ließ sich die gewünschte Temperatur voreinstellen. Sie drehte auf 36,5 Grad, die besonders markiert waren, und beobachtete fasziniert, wie ihr Experiment hinter dem dicken Glas im Kreis fuhr wie ein Karussellpferdchen. Als sie die Tür wieder öffnete, raubte ihr der betörende Duft des Adonis-Getränkes ein wenig die Sinne und sie beschloss, es im Schlafzimmer zu genießen. Estelle murmelte vor sich hin:
    »O dreimal schöner du ...
    Die Schöpfung, die in dir sich überboten;
    zählt, wenn du stirbst,
    das Leben zu den Toten!«
    Auf der Bettkante sitzend hielt sie kurz inne, ihr war ein wenig schwindelig und rasch nahm sie einen Schluck. »Das war Shakespeare, der kannte den Adonis auch schon«, erklärte sie der Nachttischlampe. »Halt mal!« Die Lampe widersprach nicht. Estelle grinste, zog sich hastig aus und kroch unter die Decke. »Auf das Leben!« Sie trank den Rest, ihr Mund formte ein lautloses »Oh!«, dann kippte sie nach hinten um. Das Glas entglitt ihrer Hand und rollte im Zeitlupentempo übers Bett bis zum Fußende, wo es einen blutigen Fleck hinterließ, bevor es auf dem Boden zerschellte. Estelle schnaufte einmal, rollte sich auf die Seite und schlief ein.
     
    Nachdem Asher vergeblich nach Spuren von Julen oder seinem Bruder gesucht hatte, kehrte er im Morgengrauen erschöpft nach London zurück. Er hatte eine Anzahl alter Kontakte reaktiviert. Einen Vampir zu finden, dessen Gegenwart niemand spüren konnte, war allerdings ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, wenn dieser nicht gefunden werden wollte. Selbst für Asher.
    Er mochte zwar altmodisch sein, wenn es um Frauen ging, aber als Hüter des Rates war er gezwungenermaßen einigermaßen auf dem Laufenden, was moderne Technik betraf. Persönlich hielt er wenig von solchen Spielereien, doch einige der jüngeren Vengadore schienen ganz versessen darauf zu sein, und die Wanze, die er Julen unbemerkt angehängt hatte, war in der Tat eine nützliche Erfindung. Ärgerlich nur, dass der Punkt auf seinem Hightech-Handy sich seit einiger Zeit nicht mehr bewegte. Julen hatte offenbar seine Kleidung gewechselt. Man müsste ihm das Ding implantieren, dachte Asher verdrossen, während er das Appartement in Nells unterirdischem Refugium durch einen verborgenen Eingang betrat. Die Räume waren tatsächlich einmal die seinen gewesen, doch offenbar wurden sie inzwischen auch von anderen bewohnt, schloss er aus der Tatsache, dass die Einrichtung komplett modernisiert worden war. Ihm gefiel der neue Stil und auch Estelle schien nichts dagegen zu haben, jedenfalls hatte sie sich nicht negativ darüber geäußert. Asher lehnte sich gegen die kühle Wand. Wie wenig er immer noch über sie wusste! Aus seinen Beobachtungen ergab sich zwar allmählich ein Bild, doch es besaß wie ein erst kürzlich begonnenes Puzzle noch viel zu viele leere Stellen.
    Sie schlief nebenan und er spürte die Erschöpfung ihres zarten Körpers. Doch da war noch etwas anderes. Aufmerksam fühlte Asher sich in ihre Gedanken ein, das Bild ihrer nächtlichen Seele erschien vor seinen Augen, ihr Verlangen nach Erfüllung und Glück überschwemmte seine Sinne – wer sehnte sich nicht danach! Und dann traf er auf einen beunruhigenden Unterton. Eifersucht? Lust? Sofort eilte der Vampir in sein, nein, in ihr gemeinsames Schlafzimmer und erstarrte.

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