Die Sternseherin
nicht notwendig, heftiges Klopfen auf den Rücken der nach Luft Ringenden tat es auch. Und als beide sich von dem Lachanfall erholt hatten, der sich dieser einzigartigen Erfahrung unweigerlich anschloss, fragte Estelle noch einmal, was es mit der Kurtisane auf sich habe.
»Eleanor Gwynn, also Nell, ist hier in Covent Garden aufgewachsen und war ein ›Orangenmädchen‹, wenn du weißt, was ich meine.« Sie hielt ihr Glas auffordernd hoch und Estelle schenkte ihr noch einmal nach, sich selbst gönnte sie ebenfalls einen Schluck. Eigentlich schmeckte das Zeug gar nicht so übel, sie trank dieses Mal vorsichtiger und spürte schon wieder ein Kichern in sich aufsteigen.
»Sie hat ihre eigenen ›Orangen‹ angeboten«, erklärte Sara, umfasste ihre Brüste von unten und hob sie ein wenig an.
Estelle prustete los. »Okay, ich hab’s kapiert.«
Sara trank. Sie hustete und erzählte dann weiter. »Nell wurde Schauspielerin, gelangte zu einigem Ruhm und fand reiche Gönner, was mich nicht wundert, denn ich finde, sie ist eine außergewöhnliche Schönheit.« Saras Stimme klang etwas undeutlich.
»War«, nuschelte Estelle. »Sie war vielleicht schön, jetzt ist sie tot.« Estelle bekam das Gefühl, sich auf äußerst glattem Parkett zu bewegen. Sara konnte unmöglich etwas von der Existenz unsterblicher Kreaturen wissen, wenn sie ihre eigene Geschichte nicht einmal kannte – und dabei sollte es für heute auch bleiben. Die Situation war sowieso schon kompliziert genug. »Wahrscheinlich hat ihr irgendjemand mal erzählt, dass sie dieser Kurtisane ähnlich sieht, und sie hielt es für eine gute Idee, ihre Kneipe nach der Frau zu benennen. Immerhin ist das Theater Covent Garden nur zwei Straßen weiter.
»Wie auch immer«, Sara gähnte. »Dein ›Schlafmittel‹ scheint allmählich zu wirken.«
Das wurde auch Zeit, fand Estelle. Sie hatte sich ganz schön ins Zeug gelegt, um der neuen Freundin bleierne Müdigkeit zu suggerieren, und war selbst dabei ganz schläfrig geworden. Außerdem hatte sie einen gehörigen Schwips. »Ich gehe auch ins Bett. Gute Nacht!«
»Schlaf schön!« Sara winkte ihr noch einmal zu und schloss die Tür hinter sich.
Nell Gwynn war also eine Hure. Kein Wunder, dass Asher nichts Genaueres über seine Bekanntschaft mit der Vampirin erzählen wollte. Ob er ihre Dienste häufig in Anspruch nahm?
Estelle ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Dabei fiel ihr auf, dass das Kühlfach ein wenig offen stand. »Es wäre doch schade um die ›Köstlichkeiten‹.« Sie wollte die Schublade schon schließen, als ihre Neugier plötzlich aufflammte. Nur einmal hineinsehen, nahm sie sich vor und zog fest am Griff. Im Kühlschrank ihrer Schwester hatte sie Blutkonserven gesehen, die – anders als diese Bezeichnung vermuten ließ – aus einem flachen Plastikbeutel bestanden, wie man ihn auch aus dem Krankenhaus kannte. Eher aus Krankenhausserien, korrigierte sie sich. Keine ihrer Schwestern, oder auch sie selbst, hatten jemals eine Klinik oder Arztpraxis von innen gesehen. Wenn ihnen etwas gefehlt hatte, dann war eine Cousine ihrer Mutter gekommen, um sie zu heilen. Die Fee brauchte nur eine Hand auf ihre Stirn zu legen und sie waren schnell wieder gesund. Eine Tatsache, die ihnen nicht immer gefallen hatte. Welches Kind hat nicht schon einmal Bauchweh vorgetäuscht, um von der Mutter besonders umsorgt zu werden? Eine magische Heilung war dabei eher hinderlich. Estelle schüttelte die Erinnerungen an ihre Kindheit ab und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie schwankte leicht, als sie sich bemühte, die Worte auf den Etiketten zu entziffern. Ihr kam es vor, als tanzten die Buchstaben absichtlich, um unlesbar zu bleiben. Schließlich entdeckte sie aber doch, dass die Flaschen unterschiedlich etikettiert waren. Sie zog eine von ihnen heraus und kniff einige Male die Augen zusammen. »Aha! Den vegetarischen Dänen kenne ich ja schon, was haben wir sonst noch Schönes?« Damit stellte sie die Flasche zurück und griff nach der nächsten »›Draconic Death‹? Igitt, wer trinkt denn so was?«
Estelle hielt eine weitere ins Licht, um besser sehen zu können. »AB-Negativ« las sie und meinte einmal gehört zu haben, dass diese Blutgruppe äußerst selten vorkam. »Autumn Adonis« klang auch nicht schlecht und die rote Blüte hinter dem Ohr des »herbstlichen Schönlings« wirkte irgendwie wagemutig. Sie drehte am Schraubverschluss. »Kein Korken?« Estelle kicherte, dabei
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