Die Sternseherin
Blut! Der ganze Raum roch nach Blut, aber es war nicht ihr köstliches Aroma, das er wahrnahm. Erleichterung machte sich breit, doch schnell hob eine neue Sorge ihren grauen Kopf. Deutlich konnte er Estelles rasenden Puls spüren und er beugte sich über seine Fee. »Mein Stern?« Ihr Duft umhüllte ihn, vertraut und doch eigenartig exotisch. Sie hatte getrunken. Whiskyrauch stieg in seine Nase, Torffeuer und eisige Bäche erschienen vor seinem inneren Auge. Ein guter Tropfen. Whisky aus seiner Destillerie. Aber daneben bewegte sich noch etwas Animalisches, etwas, was er sonst nur von seinesgleichen kannte. Bilder von Reißzähnen, unendlichen Weiten und tödlichen Massakern überschwemmten seine Sinne und Asher fühlte sich, als wate er an ihrer Seite knietief im Blut der Opfer. Dann sah er die Glassplitter am Fußende des Bettes. Er nahm Witterung auf und fand sich in der Küche wieder. Auf dem Tisch stand eine Flasche »Autumn Adonis«. Nein! Sie hatte davon getrunken. Dieses Gemisch war Gift für Sterbliche, selbst für Vampire bestenfalls ein Medikament, in höheren Dosen vergleichbar mit einem gefährlichen Flirt mit dem Tod. Eine gefährliche Droge.
Blitzschnell war er zurück, fühlte Estelles Puls. Ihr Herz galoppierte wie ein Vollblüter auf den letzten Metern vor dem Ziel. Asher legte seine Hand auf ihre Stirn. Die Temperatur war viel zu hoch. Estelle stöhnte und warf sich auf die andere Seite, dann begann sie zu reden. Es war kaum etwas zu verstehen, aber es schien, als spräche sie in Versen über Feen, Nymphen und die Liebe. »Mein Gott, sie träumt die Geschichte von Adonis und Venus!« In der griechischen Mythologie war diese Liebesbeziehung einseitig gewesen und nicht gut ausgegangen. Adonis hatte die Liebe seiner Göttin zurückgewiesen. Asher versuchte Estelle zu wecken, vergeblich. Schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen, als sie in ein kaltes Bad zu setzen. Aber kaum hatte er sie entkleidet, begann sie zu zittern, ihre Haut war im Nu von kaltem Schweiß bedeckt. Die Temperatur stieg weiter bedrohlich schnell, obwohl ihre Lippen kalt blieben und so blass waren, dass sie bläulich schimmerten. Unkontrolliert schlugen ihre Zähne aufeinander, und als er alles probiert hatte, wusste er sich nicht mehr zu helfen. Asher legte sich zu ihr und nahm die Geliebte in seine Arme, während er beruhigende Worte flüsterte. Ihr schmaler Rücken lag an seiner Brust, die langen Beine schlangen sich um seine, als hätte sie nur auf ihn gewartet. Das Zittern ließ allmählich nach und schließlich passte sich ihre Temperatur der seinen an. Nie war sie offener für ihn gewesen als in diesem Augenblick der Not.
Der Traum begann wie immer täuschend friedlich in einer klaren Nacht. Estelle stand im Licht der hellen Mondscheibe und blickte in den Himmel, als die Sterne ganz langsam, einer nach dem anderen, anfingen, sich von ihrem angestammten Platz zu entfernen. Immer schneller näherten sie sich der Erde und sie begann ihre Wärme zu spüren, die anfangs angenehm schmeichelte, aber im Nu zur sengenden Hitze wurde und ihre Haut wie unter der heißen Wüstensonne verbrannte, Blasen werfen ließ und schließlich aufbrach. Doch der Schmerz interessierte Estelle nicht. Während sie ihre Augen mit schwarzen Händen vor dem gleißenden Licht schützte, versuchte sie vergeblich die Stimmen zu verstehen. Erst war es nur ein undeutliches Säuseln, dann ein lauter werdendes Raunen, das in Sekundenschnelle zu nicht enden wollenden Schreien aus tausend Kehlen anschwoll, um dann gemeinsam mit dem Licht wie ein Feuersturm über sie hinwegzufegen.
Zurück blieb ein absolutes Nichts, das Estelles Seele zu verschlingen drohte, wie die schwarzen Löcher es mit der Materie taten. So sehr sie sich auch wehrte, die Leere nahm von ihr Besitz, und sie wusste, irgendwann würde das Blut wie ein Tsunami über sie kommen, sie mit sich fortreißen, in ihre Nase spülen, jede Pore ihres Körpers erobern und die verzweifelten Schreie seiner Beute schließlich ersticken.
Asher erwachte mitten im Eis der Arktis. Estelle neben ihm kämpfte um ihr Leben.
»Wach auf!« Jemand rüttelte an ihrer Schulter. »Estelle, es ist nur ein Traum, komm zurück!« Starke Arme hielten sie, wiegten sie sanft hin und her, bis ihr ersticktes Schluchzen allmählich nachließ und sie sich erschöpft an Ashers Brust lehnte. »Ich bin bei dir, hab keine Angst!«
Während der Vampir über sie wachte und dabei den Geräuschen eines geschäftigen
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