Die Sternseherin
den vergangenen Jahrhunderten nie vorgekommen, und gestern war ihr wieder einmal bewusst geworden, warum er in der magischen Welt den Ruf genoss, mit ihm sei nicht zu spaßen. Seine Aura hatte sich dramatisch verändert. Sie strahlte eine gefährliche Energie aus, zudem wirkte er hoch konzentriert, aber irgendwie auch eine Spur selbstgefällig. Eben wie jemand, der sich wohl in seiner Haut fühlte und eins mit sich selbst war; wie ein Mann, der von einer wunderbaren Frau geliebt wurde und der – und das machte ihn Manon wieder sympathisch – diese ebenfalls liebte. Leider schien das Objekt seiner Anbetung momentan nicht allzu gut auf ihn zu sprechen zu sein. Manon beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. »Er hat nicht einmal versucht, dich ins Bett zu bekommen?«
Estelle schenkte ihr ein Koboldgrinsen. »Aber ja, das hat er und weißt du was? Es war wunderbar!« Dann verdunkelten sich ihre Züge wieder. »Aber gestern hat er dieser Hure in den Hintern gekniffen und sie haben sich geküsst, und als er später zu mir kam, hat er mich überhaupt nicht mehr wahrgenommen.«
Manon ahnte, dass dies eine maßlose Übertreibung sein musste, doch die Vorwürfe klangen nicht, als seien sie völlig aus der Luft gegriffen. »Ihr solltet das unter euch klären, vorhin schien er jedenfalls sehr besorgt um dich zu sein.«
»Wirklich? Ist er nicht süß?«
Das wäre nun kein Attribut, das Manon für den, wie Sara völlig richtig spürte, gefährlichen Vampir gewählt hätte. In dessen Seele vermutete sie mehr als nur einen dunklen Fleck. Estelles schneller Gefühlswechsel von beleidigt zu schwärmerisch bewies jedoch ganz klar: Sie war bis über beide Ohren in Asher verliebt. Egal, ob sie sich ihrer Gefühle bewusst war oder nicht. Draußen klapperte Geschirr und Manon beschloss, ihr Geständnis hinter sich bringen, solange Sara noch beschäftigt war. »Ich muss mit dir reden. Am besten, du ziehst dich an und wir unterhalten uns.«
»Ist was mit Asher? Oder Julen?«, bang sah Estelle sie an.
»Keine Sorge! Aber zieh dir wenigstens einen Bademantel über, mir wird bei deinem Anblick ganz kalt.«
Estelle sah an sich herunter und errötete. Sie trug keinen Faden auf dem Leib, und wenn ihr das auch vor Manon nicht peinlich war, so musste die Freundin sie doch für ein schamloses Luder halten, das sich nackt zu einem Mann ins Bett legte und obendrein noch darüber klagte, er habe nicht mit ihr schlafen wollen. Lieber Himmel, wie sollte sie Manon ihren Aufenthalt in diesem unterirdischen Luxustempel erklären? Estelle floh vor dem Durcheinander in ihrem Kopf unter die Dusche und freute sich, als sie ihre Reisetasche im Bad fand. Rasch kramte sie einige bequeme Sachen heraus und zog sich an. Ihre nassen Haare schlang sie kurzerhand zu einem Knoten. »So, jetzt erzähl mal«, sie setzte sich zu Manon auf die Bettkante, »was willst du mir beichten?«
»Ich bin eine Fee.« Jetzt war es heraus. Klar und unmissverständlich.
»Dem Himmel sei Dank!« Estelles Reaktion entsprach so wenig ihren Erwartungen, dass Manon ansetzte, um zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte. Doch ihre Freundin nahm sie in den Arm und drückte sie ganz fest. »Das weiß ich doch längst!«
»Und du hast mir nichts gesagt?«
»Ich hab angenommen, es gäbe schon einen guten Grund, deine Herkunft zu verschweigen, und eine Erklärung lag ja auch auf der Hand: In unserer Umgebung wimmelt es gewissermaßen von Vampiren.« Einer Fee gegenüber, so dachte Estelle, könne sie diese Tatsache ruhig erwähnen. Sollte sie nun aber erwartet haben, mit ihrer Enthüllung Erstaunen auszulösen, dann hatte sie sich getäuscht. Manon nickte zustimmend. »In der Tat, seit ich dich kenne, treffe ich mehr Dunkelelfen als je zuvor. Manchmal glaube ich, du ziehst sie regelrecht an. Trotzdem ist das nicht der Grund für mein bisheriges Schweigen. Ich möchte dir alles erzählen, aber bitte sei mir nicht böse!«
Estelle rückte näher. »Sollten wir nicht etwas leiser sprechen?« Sie machte eine bedeutungsvolle Kopfbewegung in Richtung der Tür, hinter der es still geworden war.
»Das wäre bestimmt besser«, flüsterte Manon, lauschte einen Moment und sagte dann: »Sie ist mit ihren Gedanken an einem völlig anderen Ort, das arme Mädchen! Also, es war so ...« Und dann erzählte sie, wie Kieran sie aufgesucht hatte, weil er sich nicht erklären konnte, warum Estelle so unglücklich war. »Ich kenne ihn schon lange, doch das ist eine andere Geschichte.« Estelles
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