Die Sternseherin
Die Spitzenborte ihres apfelgrünen BHs lugte unübersehbar hervor und Estelle, die Manon noch kurz zuvor für ihre Unbekümmertheit und die originelle Art sich zu kleiden bewundert hatte, fand sie in ihrer kanariengelben Bluse und dem bunt karierten Mini auf einmal ziemlich billig, als sie Julen mit einem Augenaufschlag fragte: »Wie kommt es, dass ich dich noch nie gesehen habe?«
Als ob sie alle Männer der Stadt kennen würde. Aber vielleicht tut sie das ja sogar, dachte Estelle und schämte sich gleich darauf für ihre Gehässigkeit. Immerhin plauderten ihre Mitbewohnerin und die anderen in der Runde mit Julen, während sie selbst still daneben saß. Er sah nicht einmal mehr zu ihr herüber. Das war es dann wohl mit ihrer neuen Bekanntschaft!
Estelle schloss resigniert die Augen und erkundete die Gedanken der anderen so weit, wie sie es wagte. Rechts neben ihr saß Steve, ein dunkelhaariger, freundlicher Mann, dessen Miene im Moment jedoch deutliches Missfallen ausdrückte. Er war eifersüchtig auf den Neuankömmling. Aus gutem Grund, wie sie feststellte, denn seine Freundin neben ihm hatte nur noch Augen für Julen und überlegte, was sie Intelligentes sagen konnte, um den Fremden zu beeindrucken, da er ja offensichtlich an ihren körperlichen Reizen weniger interessiert war als an den Brüsten der rothaarigen Schlampe. Oh! Damit war anscheinend Manon gemeint. Deren Freundin und Arbeitskollegin, wenn Estelle sich richtig erinnerte, hing ebenfalls wie gebannt an seinen Lippen. Die beiden anderen am Tisch, ein Pärchen, das sich unterm Tisch verstohlen an den Händen hielt, interessierten sich nicht für den Fremden, aber überraschenderweise für eine üppige Brünette, die ihnen verheißungsvolle Blicke zuwarf. Und Manon freute sich über den glücklichen Zufall, dass Julen gerade jetzt in der Stadt aufgetaucht war – aus beruflichen Gründen, wie er erzählte – und dass er gut zu Estelle passen würde. Dann wanderten Manons Gedanken zurück zu einem Paar roter High Heels, für das sie bereitwillig einen Ladendiebstahl begangen hätte, wäre dieses Geschäft nicht so gut gesichert.
Ein warmes Gefühl durchströmte die Feentochter und sie nahm sich spontan vor, ihrer Mitbewohnerin die Schuhe zu schenken. In ihr hatte sie zwar keine Feenverwandte, aber doch eine gute Freundin gefunden. Der Vampir würde die Ausgabe verkraften. Estelle war überrascht, wie viele Emotionen sie heute aus einer flüchtigen Berührung, einem raschen Blick lesen konnte, ohne selbst in Schwierigkeiten zu geraten. Eines irritierte sie jedoch – Julen schien an dieser Welt aus Wünschen, Sehnsüchten und Missgunst nicht teilzuhaben. Sie zog sich aus ihrer Gedankenwanderung zurück, sah auf und blickte direkt in seine Augen, die sie nachdenklich über den Rand eines gut gefüllten Glases hinweg zu mustern schienen. Wer bist du?, fragte sie lautlos, aber es war, als habe sie in einen leeren Raum gesprochen, nur mit dem Unterschied, dass nicht einmal ein Echo zurückkam. Gruselig. Bei der Vorstellung, er könnte wirklich ein Elf sein – nannte man ein männliches Feenwesen überhaupt so? –, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Am Nachmittag hatte sie diese Idee regelrecht elektrisiert, doch jetzt wirkte sie eher beunruhigend. Julen zog sie zweifellos in seinen Bann und bei einem magischen Wesen, das sie nicht einmal spüren konnte, dürfte dies keine gute Sache sein. Estelle konnte nicht mehr klar denken, sie wollte raus aus diesem lauten, viel zu warmen Pub. Ihre Hände begannen zu zittern. Eine Vision war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie stand auf und flüsterte Manon zu: »Ich habe versprochen, meine Familie heute Abend anzurufen. Du kannst aber gerne hier bleiben, ich finde alleine zurück.«
»Deine Familie?« Dann zeichnete sich das Verstehen in Manons Gesicht ab. »Aber ja, mach dir nur einen netten Abend! Ich werde nicht vor Mitternacht zu Hause sein«, fügte sie zwinkernd hinzu, und Estelle bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass Julen sich ebenfalls erhoben hatte und begann, sich zu verabschieden. Sie tat es ihm gleich und danach blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm an die frische Luft zu folgen. Draußen fröstelte sie und war nicht sicher, ob der kühle Wind oder Julens Nähe die Schuld daran trug. »Aber du hast nur ein Hemd an!«, protestierte sie, als er ihr seinen Mantel um die Schultern legte.
»Ich friere nicht so leicht. Ist mit dir alles in Ordnung?«
Seine Hand zwischen ihren
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