Die Sternseherin
hinaufzutragen?« Er schaute auf ihre Tüten, von denen einige allmählich ihren Kampf gegen die Feuchtigkeit verloren.
Wollte ich mich eben tatsächlich von ihm küssen lassen? Estelle schämte sich. Einem Fremden – egal ob zum Anbeißen sexy oder nicht – erlaubte man keine derartigen Freiheiten und man lud ihn auch nicht in seine Wohnung ein. Sie schüttelte den Kopf, über sich selbst und als Antwort auf seine Frage. Dann drehte sie sich um, lief über den Hof und versuchte dabei, nicht in eine der Pfützen zu treten. Ihre Füße waren sowieso schon nass, aber die Schuhe noch nicht ganz verloren, und sie würde sich mit dem Umziehen beeilen müssen, wenn sie pünktlich im Pub sein wollte. Im Hausflur streckte sie die Hand aus, um das Licht einzuschalten – und ließ erschrocken ihre Tüten fallen.
Julen stand dicht neben ihr, sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »So war das nicht gemeint.« Er legte seine Hand auf ihren Arm. Estelle bereitete sich auf einen Sturm fremder Gefühle vor. Nichts. Sie konnte ihn einfach nicht spüren. Ein seltsamer Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Würde sie mit diesem verführerischen Mann schlafen, könnte sie sich endlich einmal fallen lassen, ohne befürchten zu müssen, dass seine Fantasien ihr eine kalte Dusche verpassten oder die Intensität seiner Empfindungen unweigerlich einen Anfall zur Folge hatten. Ihre Wangen glühten.
Julen musste ihr Schweigen falsch verstanden haben, denn er ließ sie los, bückte sich, hob die am Boden verstreuten Einkaufstüten auf und reichte sie ihr. »Ich würde dich gerne wiedersehen.«
Vielleicht war es die Verbeugung, die er dabei andeutete, vielleicht auch eine wiedererwachte Abenteuerlust. Jedenfalls nahm sie allen Mut zusammen und sagte: »Ich bin später im Pub verabredet. Wenn du Lust hast, schau doch vorbei!« Sie nannte ihm Namen und Adresse und ohne seine Antwort abzuwarten, rannte sie die Stufen bis in den fünften Stock hinauf. Oben angekommen stürzte Estelle in die Wohnung und warf sich, nachdem sie den Schlüssel sorgfältig zweimal im Schloss umgedreht hatte, japsend auf ihr Bett. Ihr fehlte es deutlich an Übung. Mit Treppen und mit Männern.
Der Uhr zufolge war doch noch ausreichend Zeit zur Verfügung, und so verbrachte Estelle eine vergnügliche Stunde vor dem Spiegel, bis sie einigermaßen zufrieden ihr Abbild betrachtete. Der Rock, für den sie sich schließlich entschieden hatte, betonte ihre Beine, die auch in flachen Schuhen ungewöhnlich lang waren, wie sie aus sicherer Quelle wusste. Schließlich hatte sie in Paris während der ersten Monate ihr Taschengeld mit kleinen Modeljobs, häufig für Strümpfe, aufgebessert, und ihr Booker war überzeugt, dass sie Chancen hatte, eines Tages für große Shows gebucht zu werden. Alles lief wunderbar. Bis zu dem Tag, an dem sie zum ersten Mal mitten im Fotoshooting eine Vision übermannte, an deren Höhepunkt Estelle weinend zusammenbrach. Als sie wenige Tage später erneut einen Anfall bekam, bedeutete dies das Aus für ihre Karriere, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Zu viele Mädchen hofften auf die große Chance, und wo eine ausfiel, waren Dutzende bereits zur Stelle, ihren Platz einzunehmen.
Sie solle erst einmal wieder gesund werden, riet man ihr in der Agentur, aber hinter vorgehaltener Hand fiel das böse Wort »Drogen«. Estelle war entsetzt, wie schnell sie fallen gelassen wurde, und das, obwohl sie in ihrem Leben nie geraucht und kaum einmal Alkohol getrunken hatte, von härteren Drogen ganz zu schweigen.
Die Anrufe ihrer Agenturchefin, die am Tag ihres Rauswurfs nicht in der Stadt gewesen war, hatte sie nie beantwortet. Was verstanden diese Leute schon von Estelles Problemen?
Unwillig schüttelte sie ihren Kopf, als wollte sie die schlechten Erinnerungen loswerden, was ihr auch gelang, denn nun verlangte der neue Haarschnitt nach ihrer ganzen Aufmerksamkeit. Die Haare flogen auf wie seidige Rabenflügel und legten sich anschließend wieder weich um ihr schmales Gesicht. Sie hatten einiges an Länge eingebüßt, aber die Veränderung gefiel ihr ausgezeichnet, und sie wünschte sich, ihre Schwester könnte sie so sehen. Auch der Rest gefiel ihr. Ihr T-Shirt zeigte gerade genug Dekolleté um Interesse zu wecken und die Taschen des Rocks verbargen ihre vorstehenden Hüftknochen. Sie nahm sich vor, in Zukunft mehr auf sich achtzugeben. In der Vergangenheit hatten die Anfälle und Visionen keinen Raum für gesundes Leben, für Leben
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