Die Sternseherin
überhaupt, gelassen. Das sollte sich ändern. Zufrieden mit sich und den gefassten Vorsätzen, griff Estelle nach ihrer Jacke und brach zu ihrer ersten Verabredung seit Monaten auf. Sie traf sich zwar nur mit Manon, aber insgeheim hoffte sie darauf, Julen wiederzusehen.
Nachdem sie einmal in eine falsche Gasse abgebogen war und etwas ratlos vor einem plätschernden Brunnen stand, fand sie das Pub im zweiten Anlauf und ging die wenigen Stufen hinab zum Eingang. Schon durch die geschlossene Tür war ein mächtiges Stimmengewirr zu hören und beim Hineingehen schlug ihr der warme Geruch von Bier, Essen und menschlichen Ausdünstungen entgegen. Sie rümpfte ihre Nase, tröstete sich aber damit, dass zumindest der Genuss von Tabakwaren aller Art hier untersagt war. Ein fröstelnder Raucher, der ihr zurück in die Wärme folgte und mit großem Hallo von seiner Runde begrüßt wurde, zeugte davon. »Ich will doch glatt das Qualmen wieder anfangen, wenn ich dabei so leckere Beute machen kann!«, witzelte ein tätowierter Typ und schob einen Hocker für Estelle zurecht. Menschenansammlungen bereiteten ihr stets Unbehagen, und wenn auch nicht immer ein Anfall drohte, so kostete es doch erhebliche Energie, die Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte dieser Leute auszublenden. Die Fantasien des Mannes waren eindeutig und einfach nicht zu ignorieren, als er noch einmal auf den Sitz neben sich klopfte. Schnell wandte sie sich ab.
Manons Lachen erklang, und sie entdeckte ihre Mitbewohnerin mit anderen Gästen in einer Ecke des Lokals. Erleichtert winkte sie ihr zu und wurde überschwänglich begrüßt. »Du siehst toll aus!« Manon drückte sie fest an sich. »Der Name deines Friseurs sollte unser Geheimnis bleiben. Nicht auszudenken, wenn plötzlich alle Frauen eine so beeindruckende Verwandlung erleben!«
Nachdem sie vorgestellt worden war, ließ sie sich, froh dass die Aufmerksamkeit nun nicht mehr ihr galt, auf einen der Holzstühle sinken. Während Manon mit einem Mann namens Ben zur Bar ging, um die nächste Runde Drinks zu holen, blickte sie sich um. Das Pub sah aus wie viele andere seiner Art, mit rustikaler Einrichtung und einem von verschüttetem Bier dunkel gewordenen, rot karierten Teppich. Einige ältere Gäste unterhielten sich in ihrem Dialekt, den Estelle im Laufe des Tages mehr als einmal vergeblich versucht hatte zu verstehen. Ein paar Touristen glaubte sie auch an ihrer praktischen Kleidung zu erkennen, die anderen waren wahrscheinlich Studenten und Nachbarn. Dicht am Eingang saßen fünf Frauen, die sicher nicht ihr erstes Bier an diesem Abend tranken. Plötzlich aber verstummte deren Gekicher und sie starrten wie gebannt zum Eingang. Estelle ahnte, wen sie erblickt hatten. Der Luftzug war deutlich zu spüren, der entstanden war, als die Tür sich geöffnet hatte, der Neuankömmling aber nicht. Verlegen betrachtete sie die Bierdeckel vor sich auf dem Tisch und fragte sich, wie sie so dreist hatte sein können, eine Zufallsbekanntschaft hierher einzuladen. Schließlich schaute sie doch auf und direkt in Manons Gesicht, die mit zwei randvollen Gläsern vor ihr stand. Sie machte eine Kopfbewegung zur Bar. »Die atemberaubende Erscheinung dort drüben scheint sich mächtig für dich zu interessieren. Du kennst ihn nicht zufällig?«
Estelle wollte erst schwindeln, gestand dann aber: »Wir sind uns heute über den Weg gelaufen. Ich habe nicht geglaubt, dass er wirklich kommt.« Eine glatte Lüge. Seit ihrer Begegnung hatte sie kaum eine Minute an etwas anderes gedacht als an ein Wiedersehen mit Julen. Sie sah zur Bar hinüber und lächelte schüchtern. Das genügte ihm offenbar als Einladung, er griff seinen Wein und schlenderte auf ihren Tisch zu. Von Manon war ein anerkennender Pfiff zu hören. »Zum Teufel mit meiner Kurzsichtigkeit. Der wird ja immer heißer, je näher er kommt! Ich wusste, dass es eine gute Idee sein würde, an dich zu vermieten. Man stelle sich das nur vor, noch keinen ganzen Tag in der Stadt und schon hat sie sich dieses Zuckerstückchen geangelt.« Die letzten Worte flüsterte sie und kaum waren sie verklungen, stand Julen vor ihnen, warf Manon einen verschmitzten Blick zu, so als habe er sie gehört, und fragte höflich, ob er sich setzen dürfe.
Estelle nickte leicht benommen. Als sie keine Anstalten machte, ihre Freundin vorzustellen, nahm diese das schließlich selbst in die Hand, lehnte sich dabei zu Julen hinüber und gestatte ihm einen interessanten Einblick in ihren Dessousgeschmack.
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