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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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Schulterblättern wirkte beruhigend und aufregend zugleich. Die beklemmende Enge in ihrer Brust, die einer Vision voranging, löste sich und Estelle atmete tief durch. Julens Mantel roch gut. Wonach konnte sie nicht herausfinden, aber der Duft gefiel ihr, und schließlich gab sie sich zufrieden, ihn »Julen« zu nennen. Wenn sie ihn schon nicht spüren konnte, so musste sie sich in Zukunft eben auf ihre Nase verlassen. In Zukunft?
    »Darf ich dich nach Hause begleiten?«
    In Zukunft also!, dachte sie und nickte. »Bis zur Tür.«
    Er lachte. »Wenn du mir dafür einen Gefallen tust.«
    »Und was soll das sein?«
    »Komm morgen mit mir ins Kino.«
    »Das ist allerdings ein großer Gefallen. Ich möchte wetten, du liebst Actionfilme!«
    »Du etwa nicht? Aber nein, du siehst am liebsten französische Filme, habe ich recht?«
    »Nur wenn sie im Original sind.«
    »Aha, Mademoiselle ist gebildet!« Julens Französisch war akzentfrei, dazu machte er eine übertriebene Verbeugung.
    »Nein, sie hat in Paris gelebt«, entgegnete Estelle ebenso mühelos in der fremden Sprache, und ihr war es in diesem Moment egal, dass der Vampir ihr verboten hatte, über ihren Aufenthalt dort zu sprechen. Erfreut stellten die beiden im Laufe einer angeregten Unterhaltung fest, dass sie beliebte Restaurants und Clubs ungefähr zur gleichen Zeit besucht hatten. Ein Wunder eigentlich, dass sie sich noch nie zuvor begegnet seien, meinte Julen, eine solche Schönheit wäre ihm bestimmt aufgefallen.
    Ein wenig zu routiniert fand Estelle dieses Kompliment, aber nichtsdestotrotz freute sie sich. Gesehen hatte sie ihn tatsächlich nie. Vielleicht waren sie aber sogar irgendwo einmal aneinander vorbeigelaufen, doch wie hätte sie sich daran erinnern sollen? Er wäre ja niemals zu spüren gewesen, selbst wenn er direkt neben ihr gestanden hätte.
    Während sie Seite an Seite die Straße entlangschritten, beschloss sie, man könne die Situation genauso gut nutzen, um mehr über ihn zu erfahren. Von seinem Gespräch mit Manon hatte sie nur mitbekommen, dass er erst kürzlich in die Stadt gezogen war. »Und woher stammst du, wenn ich fragen darf?«
    Er griff sich theatralisch ans Herz. »Du hast meinen Akzent herausgehört! Ich gestehe, meine Wiege war aus Eis, meine Amme eine weiße, haarige Matrone mit so großen Tatzen.« Er breitete seine Hände weit aus.
    »Du nimmst mich auf den Arm!«
    »Das würde ich liebend gerne tun. Soll ich dich über die Schwelle tragen?«
    Estelle sah sich überrascht um, sie standen tatsächlich vor ihrer Haustür. »Oh, wir haben unser Ziel erreicht!«
    »Haben wir das?«, murmelte Julen und beugte sich zu ihr hinab, bis sie die Wärme seines Körpers fühlte, während ein Hauch ihre Wange streifte und die Härchen auf ihrem Nacken zu zittern begannen. Jetzt würde er sie küssen! Das Kribbeln im Bauch nahm zu, erwartungsvoll spannte sich ihr Körper, als sehne er sich genauso wie das Herz nach dem Moment, wenn sich ihre Lippen zum ersten Mal streifen würden, nach der Flut der Lust, die diese Berührung auslösen würde, und dem heißen Verlangen. Ihr Atem ging schneller – und plötzlich wusste sie, sie waren nicht mehr allein. Julen musste es im gleichen Augenblick bemerkt haben, denn er richtete sich auf und lauschte in die Nacht. Nichts war mehr übrig von dem jungenhaften Charme, sein Gesicht wirkte völlig ausdruckslos und auch Estelle standen nun die Haare aus anderen Gründen als der Vorfreude auf ein erotisches Abenteuer zu Berge. Vielmehr war sie überzeugt, sich in absoluter Lebensgefahr zu befinden.
    Julen trat einen Schritt zurück und hob dabei beide Hände in einer Friedensgeste, fast so, als sei eine Waffe auf ihn gerichtet. Vielleicht war das sogar der Fall. Sie blinzelte in die Dunkelheit. »Geh hinein und öffne niemandem!«, zischte er. Estelle ließ seinen Mantel von ihren Schultern gleiten und gehorchte, ohne zu fragen. Etwas Unheimliches lauerte in den Schatten der Häuser, und sie war froh, die Eichentür hinter sich ins Schloss fallen zu hören. Als sie kurz darauf aus einem der schmalen Fenster in den Hof hinabblickte, war Julen fort und mit ihm auch das Gefühl der Bedrohung. Wie kann das sein?
     
    Was für ein Durcheinander! Estelle saß auf einem Schemel und hatte beide Hände um die längst erkaltete Tasse mit dem bitteren Tee gelegt, als erwarte sie, ihre verwirrte Seele damit wieder in Ordnung bringen zu können. Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür ließ sie zusammenzucken,

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