Die Sternseherin
»Urian hat fast die gleichen Siegel wie in Cambridge verwendet. Sie sind kürzlich nur ein wenig abgewandelt worden, offenbar weiß er von unserem Besuch in Gralons Büro und hat die Veränderungen in aller Eile vorgenommen.« Er zeigte auf einen Balkon im ersten Stock. »Ich habe eines von ihnen dort oben so gut wie geöffnet.«
Der älterer Vengador informierte ihn mit wenigen Worten. »Wir werden direkt zu Urian gehen und verhandeln.«
»Spinnst du? Mit einem Dämon kann man doch nicht reden!« Julen war entsetzt.
»Wir haben keine andere Wahl, wenn wir ein Blutbad vermeiden wollen.«
»Dann gehe ich zu ihm, und du kümmerst dich um die Mädels. Wir haben sowieso noch eine Rechnung offen.«
»Und du glaubst, du kannst verhindern, dass diese ausgehungerten Streuner die Sterblichen schlachten? Nein, wir machen es so, wie ich sage.«
»Aye!« Damit folgte Julen ihm auf den erwähnten Balkon und sie waren im Handumdrehen im Schloss.
»Kannst du ihn fühlen?«
Julen nickte.
»Auf drei!« Die beiden Vengadore materialisierten sich gleichzeitig neben Urian, dessen Überraschung sich nur mit einem kurzen Zusammenziehen der Pupillen verriet. Julens Mundwinkel zuckte, während er den Dämon ansonsten ausdruckslos fixierte wie eine Schlange ihre Beute.
»Schön, dich wiederzusehen. Julen war der Name, nicht wahr?« Urian wandte sich Asher zu, sein Tonfall klang ausgesucht höflich. »Vengador, willkommen in meinem bescheidenen Refugium! Ich bin entzückt, deine Bekanntschaft zu machen.«
»Du wirst verstehen, dass ich diese Freude nicht teile.«
Urian schaute Asher direkt in die Augen, als wollte er damit seine Aufrichtigkeit beweisen. Was er dort entdeckte, zwang ihn allerdings beinahe dazu, den Blick abzuwenden. Das strahlende Blau der Iris erinnerte ihn an polares Eis, die glitzernden Punkte darin waren ständig in Bewegung und zeigten einen beängstigenden Wahnsinn, obwohl der Vengador völlig ruhig zurückschaute, als warte er geduldig auf etwas. Doch am verwirrendsten war, dass dieser Blick Urian geradezu aussaugte, fast als würde er ihn seiner Hitze und Energie berauben. Er fühlte deutlich seine Kraft schwinden und schaute nervös beiseite, während er erwartete, Triumph über sein Versagen in seinem undurchsichtigen Gegenüber zu lesen. Stattdessen war da nichts. Der Vampir schien genauso »leer« wie sein junger Begleiter und bewegte keinen einzigen Muskel seines Körpers. Er verfluchte den Comte de Blavet für die wohlgemeinte Entführung von ganzem Herzen. »Ich wünschte, unsere Begegnung stünde unter besseren Vorzeichen. Der Sterbliche, dem dieses Schloss gehört, weiß nichts von der magischen Welt, ansonsten hätte er nie Schwestern der Auserwählten behelligt.« Asher schwieg, doch der Polarsturm in seinem Blick hatte sich nicht gelegt. »Ihnen ist nichts geschehen.«
Julen lachte. »Denkst du etwa, wir nehmen die Mädchen mit und tun so, als sei nichts passiert? Vielleicht sollten wir der Horde hungriger Streuner, die du so gekonnt aufgehetzt hast, erzählen, wo sich ihre Freunde befinden?«
Asher stöhnte innerlich auf. Wieso hatte er auch geglaubt, dass alles gutgehen würde? Bevor Julen sich noch mehr in Rage redete, schritt er ein. »Gib sie heraus, über alles andere können wir danach reden.«
»Die Feentöchter interessieren mich nicht.« Urian war nicht dumm, wenn die beiden Vengadore sich nicht einig waren, konnte er womöglich ohne Schaden aus dieser verfahrenen Situation herauskommen. Dieser Gedanke gefiel ihm. »Mein Pakt mit de Blavet geht niemanden etwas an. Nehmt die Weiber und verschwindet.«
Julen glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Du hast augenscheinlich vergessen, dass wir zwei noch eine Rechnung offen haben?«
Urian hatte den Mund noch nicht einmal zu einer Antwort geöffnet, da krachte es im Nebenraum, dort, wo die rebellischen Streuner ihre Geiseln bewachten. Donnerschläge, Pfeifen und Heulen war zu hören, als hätte jemand ein enormes Silvesterfeuerwerk gezündet.
Die entsetzten Schreie aus vielen Kehlen gleichzeitig klangen nach Fegefeuer. Urian wurde bleich, sah sich panisch um und machte Anstalten, in die Zwischenwelt zu fliehen. Er öffnete ein Portal. Julen setzte zum Sprung an, um ihn aufzuhalten. Er verfehlte den Flüchtigen knapp und erstarrte mitten in der Bewegung. »Gunnar!«
»Hallo Bruder!«, entgegnete sein Spiegelbild und schob den Dämon zurück ins Diesseits. Im selben Moment sprangen die Türen auf. Ein Knäuel aus Vampiren und
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