Die Sternseherin
Kopf geworfen hatte. Und danach hetzte sie Kieran auf ihn, der seinem »stockkonservativen Bruder«, wie der unverschämte Bengel es nannte, die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen der westlichen Welt näher zu bringen versuchte. »Sieh es mal so«, hatte er seine Ausführungen zur Emanzipation schließlich leicht verzweifelt beendet: »Eine unabhängige, selbstbewusste Frau ist nicht nur die aufregendere Partnerin im Bett, sie kommt auch ganz gut alleine zurecht, wenn du ihrer eines Tages überdrüssig wirst.«
Asher blies zischend die Luft durch seine Lippen, was bei einem Sterblichen als abfällige Meinungsäußerung interpretiert worden wäre. Wenn es auch nicht zwingend erforderlich war, hatte er das Atmen immer beibehalten, denn es gab Situationen, in denen sein geringer Sauerstoffbedarf verdächtig gewesen wäre. Heute hatte sich diese Fähigkeit sogar als nützlich erwiesen. Kierans Erklärung jedenfalls klang in seinen Ohren keineswegs frei von der männlichen Überheblichkeit, die ihre Schwester ihnen beiden seit Jahrhunderten vorwarf. Wie auch immer, Ashers einstige Geliebte hatten nie Not leiden müssen, auch nicht, wenn er sich längst mit einer anderen vergnügte. Doch mit den Frauengeschichten war es längst vorbei. Seit langer Zeit war er keiner mehr begegnet, die ihn länger als eine Nacht halten konnte. Estelle, davon war er nach dem Zwischenfall überzeugt, hatten ihm die Götter gesandt, um seine Einsamkeit solange zu lindern, bis seine Schwester unter der Haube war. Die Erinnerung an den Duft ihres Blutes ließ nicht nur seinen Kiefer schmerzen, in dem es die Reißzähne nach Freiheit verlangte, es kam noch schlimmer: Auch andere Regionen seines Körpers versuchten, sich seiner Kontrolle zu entziehen. »Ganz so, als wäre ich noch grün hinter den Ohren! Ein bisschen hinderlich bei einer Verfolgungsjagd«, murmelte er und musste dabei lächeln. Estelle hatte definitiv das Potential, ihn mehr als nur ein paar Wochen zu faszinieren. Plötzlich wünschte er sich, seine Schwester würde es mit ihrer Suche nach einem Seelenpartner nicht allzu eilig haben. Er schob alle persönlichen Gedanken beiseite und machte sich die Dunkelheit zunutze. Geschmeidig sprang er auf das nächstgelegene Dach und hielt nach Julen Ausschau. »Da bist du ja!« Er schwang sich in die Luft und folgte seinem ahnungslosen Konkurrenten. Während der Wind ihm das Haar zerzauste, fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder lebendig und die Verfolgungsjagd, einst eine seiner bevorzugten Disziplinen, begann ihm Spaß zu machen wie zu seinen besten Vengador-Zeiten.
Julen hatte derweil sein Ziel erreicht. Er war für menschliche Wesen nicht mehr als eine kurze Irritation im Augenwinkel, als er durch den Torbogen huschte. Der Pförtner sah nicht einmal auf, aber Asher entging nichts. Er beobachtete, wie der junge Vengador im Schutz einer Baumgruppe auf das Gebäude zulief, dessen Besitzer es offenbar für angebracht hielt, sein Anwesen mit einer nahezu drei Meter hohen Mauer zu umgeben. Ein Schild am Tor lieferte die Begründung. Die Villa beherbergte ein über die Landesgrenzen bekanntes Sanatorium für besondere Fälle. Ende des 17. Jahrhunderts, erinnerte sich Asher, hatte ein ortsansässiger Lord seine Frau unter dem Vorwand, sie sei eine Ehebrecherin, in das Jagdschlösschen verbannt. Die Wahrheit war allerdings, dass die verzweifelte Gattin sich geweigert hatte, seine Mätresse unter ihrem Dach zu dulden, und er sie zur Strafe kurzerhand für verrückt erklärte. Die Unglückliche durfte das Tor, vor dem er nun stand, nie mehr durchschreiten und war sogar in dem Park beerdigt worden. In später Reue gründete der Ehemann nach ihrem Tod eine Stiftung und in den folgenden Jahrhunderten lebten vorwiegend Abkömmlinge des Adels hinter diesen fest verschlossenen Türen, deren Ticks selbst ihre exzentrischen Familien nicht mehr tolerieren konnten oder wollten. Geflohen war bis zum heutigen Tage niemand. Das Areal erschien ihm immer noch bestens gesichert. Um so erstaunlicher, dass der vampirische Eindringling vor ihm noch keinen Alarm ausgelöst hatte. Julen hatte inzwischen das Gebäude erreicht und bewegte sich lautlos hinter den dunklen Fenstern. Asher trat in die Zwischenwelt ein und beobachtete kurz darauf von dort aus, und selbstverständlich von Julen unbemerkt, wie dieser sich behutsam einer älteren Dame näherte, die beim Schein einer einzelnen Lampe in ihrem Sessel döste. Der Vampir bückte sich und
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