Die Sternseherin
Täter gegeben hätte. Estelle wäre sicherlich erfolgreicher gewesen, aber natürlich hätte er das Feenkind niemals hierher bringen können. Bei dem Gedanken daran, wie Kieran darauf reagieren würde, wurde ihm ein wenig mulmig. Frustriert strich Julen sein Haar zurück, richtete sich auf und sah direkt in das Gesicht des Toten auf dem Hutständer. Irgendetwas an dieser bizarren Szenerie ließ ganz schwach eine Saite in ihm erklingen. Er war sich sicher, schon einmal etwas Ähnliches gesehen oder gehört zu haben. Nachdenklich betrachtete er ein Foto des Privatdetektivs aus glücklicheren Tagen, das auf dem Schreibtisch stand. »Armer Kerl!« Sein grausiger Tod schien der Schlusspunkt einer traurigen Entwicklung zu sein. Auf dem Bild hielt der Detektiv lachend eine Blondine und ein kleines Kind im Arm, das seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Der Vater wog zwar gut 30 Pfund weniger als die Leiche dort am Boden, und deutlich mehr Haare zierten den dazugehörigen Schädel, jedoch eines konnte er mit Gewissheit sagen: Es handelte sich eindeutig um denselben Mann. »Identifiziert«, murmelte Julen, bevor er weitersuchte, nach einem Brief, einer Notiz, irgendeinem Hinweis auf die Identität der Mörder.
Schließlich ließ er sich auf den Schreibtischsessel sinken. Nichts. Und dann, einer Eingebung folgend tastete er erneut den Boden der Schublade zu seiner Linken ab. Da. Eine kleine Unebenheit ließ ihn die Lade herausziehen und umgedreht auf den Tisch legen. Das Fach war kaum zu sehen, aber erst einmal entdeckt, schnell zu öffnen. Heraus fiel ein flacher USB-Stick, den er einsteckte, bevor er eiligst das Büro verließ. Der Gestank war wirklich kaum auszuhalten.
Asher hatte die Durchsuchung genau verfolgt und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Er brauchte vorerst nicht zu wissen, welche Geheimnisse der Fund des Vengadors barg. Dessen nächste Schritte würden ihm zweifellos den Weg weisen. Im Gehen stellte er das umgestürzte Foto des Toten wieder auf und stutzte. Kurzerhand ließ Asher das Bild in seine Tasche gleiten und machte sich auf den Heimweg.
VII
»Was wollte dein Freund bloß bei diesem Konzert?« Estelle sah zum dritten Mal durch die Küchentür, wo Manon das Abendessen vorbereitete.
»Nun setz dich schon hin!«
»Zum Teufel mit dem Ding!« Estelles Stimme klang leicht gedämpft, während sie sich aus den Trümmern der Sitzgelegenheit hervorkämpfte, die Manon ihr angewiesen hatte. »Wolltest du den Hocker nicht leimen?«
»Nein, das war dein Plan. Und hör auf, die Schuld für dein Missgeschick bei anderen zu suchen!«
»Was soll das denn heißen?«
Manon nahm den Topf vom Herd, griff nach einer Kelle und füllte zwei Teller mit der dampfenden Suppe, die sie auf dem wackligen Küchentisch abstellte. Im Ofen blubberte eine Lasagne, mit extra viel Käse, wie Estelle vermutete. Ihre Mitbewohnerin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, üppig zu kochen, sofern es ihr Schichtdienst erlaubte. Sie schien es darauf abgesehen zu haben, sie beide in kugelrunde Matronen zu verwandeln. Mit mäßigem Erfolg, wie Estelle feststellte, als Manon ihre Schürze mit der Aufschrift »Hier zaubert der Chef« ablegte, unter der eine unverändert schmale Taille zum Vorschein kam. Sie selbst allerdings hatte nachweislich ein paar Kilo zugenommen. Ein wenig Sport täte mir ganz gut, dachte sie und nahm sich vor, den geplanten abendlichen Einkauf wenigstens mit einem kleinen Lauf zu verbinden.
»Nimm dir den Schemel dort.« Manon reichte ihr ein Stück vom warmen Baguette. »Hör mal, dein Hellseherinnenschicksal ist wirklich unangenehm und du solltest unbedingt versuchen, das in den Griff zu bekommen, aber es gibt keinen Grund Asher dafür anzufeinden.«
»Das habe ich doch gar nicht getan!« Im Gegenteil! Estelle erinnerte sich daran, wie sie ihm beinahe erlaubt hätte, sie zu küssen. Im Nachhinein völlig unbegreiflich, genau genommen wusste sie nicht einmal mehr genau, wie er aussah. Hatte er braune oder blaue Augen? Blau waren sie, daran konnte sich Estelle auf einmal doch wieder erinnern, und irgendwie gefährlich. Woher kam denn jetzt dieser Gedanke? Egal, eigentlich war er nicht ihr Typ. »Ich zeige deutliche Zeichen verzweifelter Einsamkeit.«
Manon schien nicht zugehört zu haben. »Die Wahrheit ist, dass ich ihn angerufen und erzählt habe, wo wir hingehen. Ich dachte, es wäre ganz nett, wenn wir uns nach dem Konzert noch in einem Pub treffen würden.«
»Wollte Julen
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