Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
Vom Netzwerk:
eine weitere Variation seiner Herangehensweise. Er zog sich vorsichtig zurück und beobachtete die drei.
     
    Estelle genoss die Fahrt in der oberen Etage des Busses, von hier aus hatte sie einen wunderbaren Blick über das abendliche Geschehen in ihrer neuen Heimatstadt. Hinter Manon war sie die steile Treppe hinaufgestiegen, während der Bus bereits weiterfuhr. Die Garderobe der Freundin ließ wenig Fragen offen. Jedermann konnte erkennen, dass sie wohlgeformte Beine besaß. Weniger deutlich war ihre modische Orientierung. Das Orange des Rocks biss sich mit den lilafarbenen Strumpfhosen und Estelle hätte sich bestimmt auch für ein anderes Oberteil entschieden. Nicht nur, dass dieses schrille Pink womöglich Blinde hätte sehend machen können, die Corsage unter ihrem hellgrünen Kunstpelz war zudem noch skandalös tief dekolletiert. Daneben wirkte das schlichte Schwarz ihrer eigenen Kleidung deutlich deplatziert, aber Manon hatte ihr versichert, sie sähe hinreißend aus. Die Blicke der anderen Passagiere schienen der Freundin nicht zu widersprechen.
    Als sie gemeinsam die Stufen zum Eingang der Halle erklommen, glaubte Estelle einen Moment lang, ein magisches Wesen hinter sich zu spüren. Aber das war vermutlich nur ihre lebhafte Einbildungskraft, und so betrat sie an Manons Seite die alte Fabrik, die vor kurzem für große Veranstaltungen umgebaut worden war. Wie verabredet steuerten die Freundinnen auf die Bar zu. Und da saß er. Seine abgewetzte Lederhose hatte gewiss bessere Tage gesehen, das schwarze T-Shirt ebenfalls, aber Julen trug beides mit einer Eleganz, die alle anderen Gäste in den Schatten stellte.
    »Willkommen, mein Augenstern!«, flüsterte er ihr zu, nachdem er Manon höflich begrüßt hatte.
    Rasch hielt jeder von ihnen ein Getränk in den Händen und Julen machte ein höfliches Gesicht zu Manons Geplapper. Estelle, die sich unterdessen ihren Kopf in der Hoffnung zermarterte, etwas Außergewöhnliches zum Gespräch beitragen zu können, nutzte eine kurze Pause, um fast beiläufig zu sagen: »In Manons Altersheim wohnt ein Vampir.«
    »Seniorenresidenz«, korrigierte die Freundin automatisch und machte dabei eine abwehrende Handbewegung, als wäre die Angelegenheit es nicht wert, erwähnt zu werden. Doch Julen schien ehrlich interessiert zu sein, und deshalb erzählte sie ihm schließlich von der geheimnisvollen Behandlung, der sich eine der Bewohnerinnen unterzogen hatte. »Inzwischen ist sie in dieses Edelsanatorium am Stadtrand überstellt worden. Wenn ihr mich fragt, gehört sie ins Krankenhaus. Die Arme behielt zum Schluss kein Essen mehr bei sich und verfiel zusehends.«
    »Dann hat das Vampirserum vielleicht schon gewirkt, man sollte sie mal mit Käfern füttern oder gleich mit Blut!« Estelle schüttelte sich. »Igitt! Können wir bitte über etwas anderes sprechen?« Ihr Blick fiel auf Julen, der sie fasziniert anstarrte. »Was habe ich so Aufregendes gesagt?«, fragte sie verwirrt.
    Julen schien wie elektrisiert von der Geschichte, er sprang auf und küsste sie auf den Mund. Ihr wurde ganz warm. Ob das vom Kuss oder von seiner Frechheit kam, konnte sie nicht sagen. Im Hintergrund übertrugen Monitore den letzten Song der Vorband. »Wollen wir?« Mit diesen Worten geleitete er sie in den Saal, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Stars des Abends die Bühne betraten. Am liebsten wäre er den Hinweisen auf der Stelle nachgegangen, welche die beiden ihm ahnungslos gegeben hatten, anstatt sich zwischen mehreren Hundert Sterblichen, deren Blut überwältigend duftete, in Selbstdisziplin zu üben. Sein Instinkt sagte ihm, dass in dem Sanatorium wichtige Informationen zu seinem Fall warteten. Doch dann fiel sein Blick auf Estelle und er fand, es wäre eine Gemeinheit, ihr diesen Abend zu verderben. Die Alte im Heim musste eben noch warten.
    Estelle liebte die Musik. Sie sang, tanzte und klatschte begeistert im Takt. Manon wich nicht von ihrer Seite, aber das störte sie ebenso wenig wie das Wissen, sich in einer feiernden und tobenden Menschenmenge zu befinden.
    Und dann, ganz plötzlich, war die Angst doch da. Greifbar und mörderisch. Die Panik nahm so schnell von ihr Besitz, dass sie nicht einmal mehr ihre Hand nach Julen ausstrecken konnte. Alle Barrieren brachen, die Emotionen Hunderter Menschen stürzten auf sie ein. Estelle schrie auf. Eiseskälte umfing sie und Blut quoll aus ihrem Mund.
    Und genau so schnell, wie das Grauen gekommen war, verließ es Estelles Seele auch wieder.

Weitere Kostenlose Bücher