Die Sternseherin
Manon fragte, was passiert sei, konnte sie sich für einen Augenblick nicht einmal mehr an den Zwischenfall erinnern.
»Hallo! Jemand zu Hause?« Manon fuchtelte mit ihren Armen in der Luft herum, um Estelles Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ich war keine drei Minuten weg, weil ich uns etwas zu trinken besorgen wollte, und du kippst einfach um. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Asher nicht aufgetaucht wäre. Die Leute hätten dich totgetrampelt! Und wo war eigentlich Julen?«
Estelle sah sie aus großen Augen an. Es stimmte, Julen hatte kurz vor dem Zusammenbruch noch neben ihr gestanden und doch war es Asher gewesen, der sie aufgefangen und in Sicherheit gebracht hatte. Sie schaute an sich herab, keine zerrissenen Strümpfe, das Kleid war völlig in Ordnung und ihre Hände zeigten nicht die geringste Spur eines Sturzes.
»Ich finde, ich habe eine Antwort verdient!«, unterbrach Manon ihre Gedanken. Schuldbewusst sah Estelle sie an und beschloss, dass es an der Zeit war, ihr Geheimnis zu lüften. »Das hast du. Aber bitte lach mich nicht aus!«
»Nun erzähl schon, bist du vielleicht krank?«
»Es mag unglaublich klingen«, begann die Feentochter und ihre Stimme wurde dabei so leise, dass Manon sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Ich kann die Gefühle der Menschen spüren. Manchmal kommen diese Bilder auch, wenn ich Gegenstände berühre, die ihnen besonders wichtig sind.« Als Manon kein Wort sagte und sie weiter erwartungsvoll ansah, fuhr sie fort: »Leider sehe ich dabei ihre Sorgen und Nöte besonders deutlich. Und ihr Schicksal«, fügte sie kaum hörbar hinzu.
»Klingt nicht gut. Kannst du den Krempel nicht aussortieren?«
Estelle musste wider Willen lachen. »Der ›Krempel‹, wie du das nennst, ist die Essenz des menschlichen Lebens, und nein, ich kann nichts aussortierten – obwohl ich es können sollte«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Dann hast du ein Problem!«, stelle Manon fest. »Hast du es schon mal mit Meditation versucht?«
»Mein ganzes Leben lang. Ich fürchte, das genügt schon lange nicht mehr.«
»Mach dir keine Sorgen, wir kriegen das irgendwie hin! Aber jetzt solltest du erst einmal nach Hause und dich gründlich ausschlafen.«
»Das sehe ich genauso!« Asher stand vor ihnen. Mit seinen ausgebeulten Cordhosen und dem grauen Rollkragenpullover wirkte er ziemlich fehl am Platz. Eben wie ein Literaturfreak auf einem Pop-Konzert, dachte Estelle. Die Idee, dass dieser Mann sie hatte küssen wollen, erschien ihr auf ein Mal ebenso abwegig wie ihr Verlangen danach. Er begleitete die Freundinnen zum Taxi und verabschiedete sich. Bevor der Wagen sich noch in den abendlichen Verkehr eingefädelt hatte, war er bereits zwischen den Passanten verschwunden.
Asher hätte sich ohrfeigen können. Nicht nur hatte er durch das überstürzte Eingreifen seine Tarnung als harmloser Sterblicher riskiert, jetzt schien ihm auch noch Julen entwischt zu sein. Glücklicherweise hatte Manon ihn trotz ihrer offensichtlichen Missbilligung gedeckt. Warum aber hatte dieser verflixte Jungspund eigentlich Estelles Panik nicht rechtzeitig bemerkt? Schließlich war er als Gastgeber des Abends für ihre Sicherheit verantwortlich. Asher jedenfalls hatte ihre Vision so heftig getroffen, als wäre es seine eigene Angst gewesen, die ihm die Seele verdunkelte. Er sah sich um und entdeckte, was er gesucht hatte: eine einsame Gasse, fern der Flaneure, die nach der Musikaufführung nun den regenfreien Abend nutzten und es nicht besonders eilig zu haben schienen, in einem der zahlreichen Pubs zu verschwinden. In Gruppen standen sie im Licht der Straßenlaternen an Hauswände gelehnt, schwatzten, tranken Bier aus hohen Gläsern, rauchten billigen Tabak und schienen sich trotz der kühlen Nacht köstlich zu amüsieren. Fröhliches Gelächter wehte zu ihm herüber und wieder einmal spürte der Vampir die Last der Jahrhunderte schwer auf seinen Schultern. Warum waren Frauen nur so kompliziert? Noch vor wenigen Dekaden hätte er sich einfach genommen, was er begehrte. Seine Geliebten waren seinem Charme früher oder später alle erlegen, auch wenn die eine oder andere anfangs vielleicht ein wenig widerspenstig gewesen sein mochte. So etwas gehörte eben zum Spiel der Frauen. Doch als er den Fehler gemacht hatte, diese logische Strategie seiner Schwester zu erläutern, war sie wütend geworden. »Testosterongesteuerter Egoist!«, lautete noch eine der freundlicheren Bezeichnungen, die sie ihm an den
Weitere Kostenlose Bücher