Die Sternseherin
eine Schatulle, die er im Schrank entdeckt hatte. Diese Bewegung war selbst für seinen erfahrenen Beobachter zu schnell, als dass er sehen konnte, was in der Tasche des Vampirs verschwand. Julen verschmolz lautlos mit der Dunkelheit. »Bravo!«, murmelte Asher und war halbwegs mit den Ausbilderqualitäten seines kleinen Bruders versöhnt. Anstatt aber dessen Schüler zu folgen, machte er sich direkt auf den Weg in das Büro des Privatdetektivs. Die Angaben im Kopf der Alten waren zwar tief verschüttet, aber, nachdem er sie erst einmal entdeckt hatte, erstaunlich präzise gewesen.
Elegant landete er auf einer ruhigen Straße und sah sich um. Die Adresse stimmte. Zwischen einer Apotheke und dem Eingang eines griechischen Restaurants, das verwaist wirkte, führte eine altersschwache Tür ins Treppenhaus. Sie war erwartungsgemäß nicht einmal abgeschlossen, und Asher betrat unbehelligt den Flur. Ein Geruch von Bratfett und mediterranen Speisen lag in der Luft. Davon kaum verdeckt reizte sofort ein weiterer Duft seine Sinne: Blut! Asher folgte der deutlichen Fährte, die mit jeder Etage, die er erklomm, stärker wurde. Schließlich stand er vor einem Schild mit dem in einzelnen Buchstaben aufgeklebten Hinweis »Detektei«. Das Ganze wirkte nicht besonders professionell. Die Tür hätte trotz der zahlreichen Schließmechanismen kein Hindernis für den erfahrenen Vengador dargestellt, doch sie war ohnehin nur angelehnt. Sekunden später sah er mit eigenen Augen, dass dem Mann zu seinen Füßen niemand mehr helfen konnte. Die Blutlache um den kopflosen Torso war noch warm, aber sie übte keine Anziehungskraft auf ihn aus. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft. Die Sterblichen neigten zu dem unappetitlichen Verhalten, im Todeskampf Körperflüssigkeiten abzusondern.
Plötzlich spürte Asher eine Bewegung hinter sich und fuhr herum. Ein Blutstropfen fiel dicht an ihm vorbei nach unten. Dort hatte sich bereits eine kleine Lache auf dem schäbigen Boden gebildet. Der Tropfen schlug auf der Oberfläche auf und das Geräusch, das dabei entstand, klang überlaut in Ashers Ohren. Seine Augen brannten sich in die Quelle dieser unwillkommenen Störung. Der Kopf des Toten thronte auf der Krone eines Garderobenständers und schien von diesem erhöhten Platz aus die Verwüstung seines Büros missbilligend zu betrachten. Bevor Asher weitere Überlegungen anstellen konnte, welch kranker Humor den Täter zu diesem Späßchen bewogen haben mochte, hörte er, wie sich jemand näherte. »Aha, das wird der Nachwuchs-Vengador sein!« Mit diesen geflüsterten Worten zog er sich zurück.
Julen hatte es einige Mühe gekostet, die Gedanken der alten Frau zu lesen. Immerhin hatte er die Adresse der Detektei gefunden, doch bereits im Treppenhaus wurde ihm klar, dass er zu spät kam. Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet. Der Unordnung nach zu urteilen, die im Büro des Detektivs herrschte, hatte er nach irgendetwas gesucht. Es gab zwar keine Beweise, aber Julens Intuition sagte ihm, dass er am Ende dieser Spur nicht nur die Vampirentführer, sondern auch das Grimoire finden würde. Er wagte kaum zu hoffen, dass es sich um das gleiche Buch handeln könnte, das er selbst bereits seit Jahrzehnten suchte, um mit dessen Hilfe seinen Bruder zu befreien. Hier waren die Bilder im Kopf der Alten erstaunlich präzise gewesen. Er würde dieser Spur auf jeden Fall nachgehen.
Systematisch machte er sich an die Aufgabe, zu suchen, was der Täter übersehen haben könnte. Obwohl mit Sicherheit nie ein Sterblicher Julens Fingerabdrücke nehmen würde, zog er, wie schon zuvor bei der alten Frau, ein Paar Handschuhe aus seiner Tasche. Das Material dehnte sich bis zum Zerreißen, als er es zum Gelenk hochzog, und der Puder, mit dessen Hilfe auch eine feuchte Hand leichter hineinschlüpfen sollte, löste in ihm einen Widerwillen aus. Julen ignorierte das Gefühl. Wie bei jeder Untersuchung hielt er sich genau an die Anweisungen seines Lehrers. Zuerst betrachtete er die Stelle, an der vor wenigen Stunden noch ein Kopf gewesen war. »Glatter Schnitt!« Julen tippte auf ein Schwert. Wer aber lief mit einer solchen Waffe durch die Gegend, die zudem noch groß genug sein musste, einen menschlichen Kopf so sauber abzutrennen? Hierfür bedurfte es auch mit einer scharfen Klinge erheblicher Kraft. Alle Fakten sprachen dafür, dass kein Sterblicher diesen Mord begangen hatte. So sehr er sich auch bemühte, Julen konnte nichts spüren, was ihm einen Hinweis auf den
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